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13 Beiträge zur Memminger Geschichte - eine Intervention

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Dieses Haus beherbergte bis 1927 ein Präsent-Porträt
des großen französischen Philosophen, Humanisten, Skeptikers
und Begründers der literarischen Kunstform des Essays
Michel de Montaigne (1533 – 1592)


An Stelle dieses heutigen Hauses stand früher, im 16. Jahrhundert, die Herberge „Zum güldenen Rammler“, die 1745 bei einem Brand völlig zerstört wurde. Diese ehemalige Herberge war der Stolz der Stadt, sie erfüllte anspruchsvolle Wünsche ihrer Gäste und besaß daher die meisten Wappen und Präsent-Porträts im schwäbischen Raum. Ihre Sammlung war so bekannt, dass Gäste hier einkehrten, nur um die Wappen und Porträts zu bestaunen.
Für jede Herberge waren die Wappen und Präsent-Porträts die größte Ehre und Zierde, die sie vorzeigen konnten. Es war in jener Zeit üblich, dass Herrschaften, wenn sie mit ihrer Beherbergung zufrieden waren, ein gemaltes Wappen hinterließen. Diese Wappen wurden in der Herberge öffentlich präsentiert und in der Gaststube aufgehängt. Allen zukünftig Herbergssuchenden zeigten diese Wappen an, dass der Herr XY zufrieden mit der hiesigen Beherbergung gewesen war.

Die Deutschen sind große Liebhaber von Wappen, denn eine Unzahl hiervon hinterlassen die durchreisenden Edelleute des Landes an den Wänden aller Gasthäuser, auch sämtliche Fensterläden sind damit übersät.*

Um sich von den üblichen Wappen abzusetzen, hinterließen bestimmte, sehr begüterte Herrschaften Präsent-Porträts. Diese zeigten ihr Wappen, aber auch ein lebensechtes Porträt der beherbergten Person. Da die Anfertigung eines eigenen Porträts eine teure und aufwändige Angelegenheit war, konnten nur vermögende und einflussreiche Personen ein solches Abbild ihrer Person als Anerkennung der Bewirtung hinterlassen.
U nser heutiges Wissen über das Aussehen vieler wichtiger Zeitgenossen der damaligen Zeit verdanken wir der Existenz solcher Präsent-Porträts.

Im 18. Jahrhundert wurden die Wappen und Präsent-Porträts im Zuge der allgemein propagierten Alphabetisierung der europäischen Bevölkerung durch ein Buch, in das sich die Gäste eintrugen, das Gästebuch, abgelöst.

Michel de Montaigne machte sich mit einer größeren Reisegesellschaft am 5. 9. 1580 von Beaumont nördlich von Paris auf, um Rom einen Besuch abzustatten. Seine Reise führte ihn über Konstanz nach Lindau und von dort über Kempten nach Pfronten.
Dortzulande ist der Brauch völlig unbekannt, vorm Schlafengehen das Bettzeug und vorm Aufstehen die Kleider zu wärmen – und die Wirte nehmen es übel, wenn man zu dem Zweck in der Küche Feuer anmacht oder das gerade brennende hierfür benützt. Das war eine der größten Streitigkeiten, die wir in den Gasthöfen hatten. Selbst an diesem Ort, inmitten von Bergen und Wäldern, wo zehntausend Fuß Tannenholz kaum fünfzig Sous kosten, wollte man uns nicht gestatten, Feuer zu machen.*

Das nächste Ziel sollte Memmingen sein und Montaigne schickte seinen Sekretär voraus, um zu erkunden, welche Herberge nicht von diesem Holzgeiz befallen sei.
Nach längerem Suchen fand sich der Wirt der Herberge „Zum güldenen Rammler“ bereit, Holz für diesen ungewöhnlichen Wunsch, „Na ja, die Ausländer“, zu verbrennen.
Der Wirt erbat sich einen Vorschuss und eine Garantie, dass die Herrschaft auch käme. Der Sekretär überreichte ihm eines der wenigen Präsent-Porträts des Herrn Michel de Montaigne, es war eigentlich für Augsburg vorgesehen.

Warum die Reisegruppe dann doch nicht nach Memmingen reiste, ist nicht bekannt, es ist nur aufgezeichnet, wo der Entschluss zur Reiseroutenänderung gefasst wurde, …und er bedauerte nun, dass er in Wangen diesen Plan, den er von Anfang an hegte, zunächst aufgegeben und statt dessen die andere Route eingeschlagen hatte.

Das Präsent-Porträt mit dem Wappen des Herrn Michel de Montaigne hing, mit 18 anderen Wappen und Porträts, die bei dem Brand 1745 vor den Flammen gerettet werden konnten, bis 1924 in dem späteren Weinhaus Eiche und wurde bei einer Generalrenovierung als altes Gerümpel entfernt. 1994 suchte der prominente Porträtforscher Dr. Gustav Häberlein aus Stuttgart fieberhaft nach dessen Verbleib, ohne Erfolg, sodass es bis heute verschollen blieb und wahrscheinlich unbeachtet auf einer der vielen Dachböden der Stadt Memmingen seiner Entdeckung harrt.

 

* Michel de Montaigne, Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Frankfurt a. M., 2002.



Literatur:
Montaigne, Essais Band I, II, III. Frankfurt a. M., 1998.
W. Weigand, Michel de Montaigne. Zürich, 1985.
U. Schulz, Montaigne. Reinbek, 1989.
G. Häberlein, Das Präsent-Porträt im Wandel. Stuttgart, 1991.