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Das ist das Museum der Unerhörten Ding

 

Das erste Ding, der erste Gegenstand, der so etwas wie das erste Exponat eines zukünftigen, eines von mir damals noch nicht erahnten, Museums war, ist ein Fernrohr. Wir, das Fernrohr und ich, fanden uns bei einem Klassenausflug zu einer der mittelalterlichen Burgen in Württemberg. Ich war gerade 11 Jahre alt. Mein Vater gab mir 5 DM, damit ich mir unterwegs etwas zu Essen und Trinken kaufen könnte. Während der Busfahrt, zu der Burg Teck, beobachtete ich einen Schulkameraden aus einer andern Klasse, wie er immer wieder durch ein ausziehbares vierteiliges Fernrohr aus Messing schaute. Ich beobachtete ihn und sah, dass er nicht sehr liebevoll mit dem Fernrohr umging, es eher zum Angeben benützte, um sich in Szene zu setzen, als dass er es seiner selbst willen schätzte. Ich musste dies Fernrohr vor der unliebsamen, würdelosen Behandlung durch seinen Besitzer befreien, der nicht begriff oder noch schlimmer, nicht schätzte, was für ein Fernrohr er da besaß.

fern

Ich erkannte es sofort. Es war das Fernrohr durch das Christoph Kolumbus am 12. Oktober 1492 das erste Mal Amerika sah. Ich sah wie Kolumbus am Bug der Santa Maria, seinen Oberkörper leicht über die Reling gebeugt, stand, beide Hände am Fernrohr, ein zufriedenes Lächeln glitt über sein Gesicht, er sah sein Amerika und sein Amerika schaute zurück.

Dies alles wusste dieser Junge nicht. Später am Tag, als er sein Interesse an dem Fernrohr verlor, kaufte ich es ihm für meine 5 DM ab, versteckte das wertvolle Fernrohr in meinem Gepäck, damit es gut aufgehoben ist und von niemanden mehr unwürdig behandelt werden konnte.

Dies Fernrohr war ohne es zu wissen das erste Ding des viele Jahrzehnte später gegründeten Museums der Unerhörten Dinge.

ochseIn der nun kommenden Zeit fanden immer mehr Dinge zu mir, ein Horn eines Auerochse, auf diesem Auerochsenhorn bliesen die Steinzeitmenschen zur Jagd, Münzen, mit denen in fremden Ländern bezahlt werden konnte, Glasperlen, die nicht nach Afrika gebracht wurden, all die Dinge fanden in einem Schuhkarton Platz und als dieser zu klein wurde, wanderten die Dinge in eine Kiste, eine Schatztruhe.

buddelDie in dieser Kiste versammelten Dinge hatten einen ungeheuren Wert. Jedes der Dinge erzählte mir eine Geschichte, seine ureigene Geschichte, die nur an diesem einen Ding hing und die nur dieses eine Ding wusste und mir mitteilte. Es waren keine zu veräußernden Werte, dass man die Dinge hätte verkaufen können, es waren, sind Werte, die nur in der Vorstellung existieren, im Kopf und daher unveräußerlich, nicht kaufbar und durch diesen Umstand kostbarer als alles mit Geld erwerbbare.

hosenSehr bald lernte ich aber auch, dass nicht jedes Ding die Wahrheit sagt, dass Dinge auch der Lüge fähig sind, der Übertreibung, wie sie auch von Eitelkeit besetzt sein können, dass es schweigende Dinge gibt, beredte, Plappermäuler ebenso wie verstockte oder schüchterne Dinge. Ich begriff außerdem, dass jedes Ding, ausnahmslos jedes Ding, eine Geschichte hat, ja dass oft die Dinge deren Bedeutung verloren gegangen ist, von deren Funktionen und Namen ich nichts weiß, dass diese oft die beredsamsten sein können.

All dies lernte ich die nächsten Jahrzehnte nachdem ich das Fernrohr dem seiner unwürdigen Jungen auf der Klassenfahrt abkaufte.

Heute befinden sich all diese gefundenen Dinge in dem Depot des Museums der Unerhörten Dinge, archiviert, gewogen, nummeriert, vermessen, fotografiert und nach ihrem Gewicht sortiert. So hängt nun das Fernrohr des Christoph Kolumbus, in der Gewichtsklasse 140g - 200g, neben einem künstlichen Hüftgelenk, das angeschlagen einen hohen, schönen und lang anhaltenden Ton von sich gibt, in Nachbarschaft eines Buddelschiffs und einer Spule mit 100m Hanfgarn.

haseÜber 400 Dinge haben sich in diesem Depot versammelt.

kugelAll diese völlig unterschiedliche Dinge, wie das Holzschiffchen eines mechanischen Webstuhles, ein Kugelschreiber eines Militärseelsorgers mit der Aufschrift „Gott behüte dich“, ein Stampfkartoffelstampfer einer Großküche, der neben Ersatzhosentaschen zum Anbügeln - einfach, praktisch, schnell - hängt, gegenüber eines feuerspeienden Hirschen und einer Plätzchenausstechform mit den Umrissen eines Hasen, all diese Dinge hängen nicht beliebig nebeneinander, die Nachbarschaften ergeben sich aus dem Gewicht und der gegenseitigen Ergänzung. Diese Vielzahl der Dinge haben alle eines gemeinsam: jedes einzelne Ding hat eine Geschichte, ein Ding mit mir laufen. Es ist eine persönliche Beziehung, die die Dinge und ich miteinander haben.

muschelEs ist der Muschel nicht ganz unähnlich, die jemand von einem Badeurlaub, vom Strand des Meeres, mit nach Hause bringt und jedes mal, wenn die Muschel gesehen wird, dieser Urlaub wieder auftaucht, um die erlebten Gefühle kurz zum Leben zu erwecken. Zu all diesen Dingen des Museums-Depots gibt es spezielle, persönliche Bezüge. Es ist aber nicht so, dass nur ich zu allen den Dingen eine Beziehung habe, auch die Dinge selbst pflegen Beziehungen untereinander. Die Verbändelung der Dinge mit mir und untereinander ergeben einen in sich verschlungenen „Depotsknäuel“.

schildIn diesem Knäuel herrscht eine präzise Ordnung, jedes Ding hängt an seinem auserwählten Platz, ist katalogisiert und bezeichnet, so ist in der unmittelbaren Nachbarschaft einer Lebendmausefalle, die noch nie eine Maus gefangen hat, eine Schachtel mit Schulkreide, von der niemand weiß, was mit der Kreide je geschrieben werden sollte, nebenan ein Porzellanherz für Medikamente und darüber ragt ein kleines rotes Schild mit der Aufschrift „7 РАДИОУЗЕЛ“.

mausIch vermute, dass die Dinge des Depots sich bei Gelegenheit, zum Beispiel nächtlich, gegenseitig besuchen, miteinander ihre Techtelmechtel haben, sich auch streiten und dies in ihrer eigenen Form, auf ihre dingliche Art und Weise.

schpindelDie Aufgabe des Museums ist es, diesen Dingen, diesen Subjekten, vorurteilsfrei zuzuhören, sie ernst zu nehmen und deren Erzählungen aufzuschreiben. In gewisser Weise liegen die Dinge des Museums auf einer psychoanalytischen Couch und ich widme ihnen meine „Gleichschwebende Aufmerksamkeit“.

spampferEs geht aber nicht darum, die Urlaubsmuschel an das Ohr zu halten, um die darin konservierten Töne des Meeres zu hören, die Muschel als Schachtel der Töne zu begreifen, als Archiv des Meeres, es geht vielmehr darum, die ureigene Geschichte genau dieser Muschel zu finden, sie aus ihr heraus zu hören. Es geht um eine bedachtsame Erhörung des noch Unerhörten. Es geht um die Muschel und nicht um das Meer.

wurstErst die Erhörung und deren Verschriftlichung verleiht einem Ding eine Aura, dadurch wird es museumsrelevant, ein Museumsexponat. Die erzählte Geschichte überhöht es, lässt es von anderen profanen Dingen abheben, sich abgrenzen und macht es zu einem Narrativ, das einzeln, von Glas geschützt, in Vitrinen liegend, von Lichtstrahlern in Szene gesetzt, in dem öffentlich zugänglichen Museumsausstellungsraum liegt und die hohen Erwartungen der Museumsbesucher, die das Besondere, das Auserwählte, das mit Würde versehene suchen, nicht enttäuscht.

mannDiese nun im Museum zur Schau gestellten Dinge erzählen Unerhörte Geschichten, erzählen von versteinertem Eis, dessen Vorkommen an drei Stellen der Erde nachgewiesen ist, sie erzählen, wie das chinesische Qi Gong von den Pinguinen abgeschaut wurde, von einem Bruststein des Schriftstellers Thomas Mann und von der Schreibmaschine eines Walter Benjamin, auf dem er den Text „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schrieb, aber auch von Traumabgabestellen, eingeschlagenen Gedankenblitzen, wie auch von Roten Fäden, die durch das Leben ziehen.

qi gongDurch die den Dingen angehängten Erzählungen wird das Museum zu einer literarischen Wunderkammer, wo sich das Haptische mit dem Literarischen trifft und ergänzt. Diese Erhörten Exponate mit ihren Unerhörten Geschichten, sind keinem Ordnungssystem, wie Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Technik oder Geologie untergeordnet. Das Museum der Unerhörten Dinge ist daher den fürstlichen Wunderkammern der Renaissance und des Barock näher als den heutigen systematisierten Spezial- und Sammlungsmuseen.

Besucher, die das Museum der Unerhörten Dinge in Berlin, im Stadtteil Schöneberg, in der Crellestraße aufsuchen, sehen Objekte und lesen die dazu gehörigen, ihnen anhängenden Texte, wie den über einen Geduldsfaden, der aus lauter Gedulden zusammen gesetzt ist, oder über die Schrauben eines Flugzeugunglücks aus dem Jahre 1937, bei dem die Musik von Béla Bartók eine zentrale Rolle spielt, wie auch über die lebenslange Liebe von Lena und Gertraud Pachulke und deren Hochzeit in den 1950ziger Jahren in Berlin. Die Personen, die das Museum betreten, tragen dazu bei, dass das Museum das meistbesuchte Museum in Berlin ist, wenn man die Besucherzahl mit den Quadratmetern des Museums verrechnet.

Faszinierend ist es aber auch, in diesem Museum die gebannte, manchmal stundenlange Lektüre von anderen Besuchern mitzuerleben. Man wohnt dann säkularen individuellen Vertiefungen des Lesens bei, die sich zu Lesegruppenerfahrungen ausweiten können: weltliche Andacht mit Wechseln zwischen Schmunzeln und Erstaunen, die sich zu einer spürbaren Atmosphäre verdichtet und von Besucher zu Besucher überträgt.“ Winfried Pauleit über das Museum der Unerhörten Dinge.

Das Museum wurde 1998 in Dresden, in der Galerie Raskolnikow gegründet, 1999 siedelte es sich im Internet an und im Jahre 2000 zog es zwischen die Hausnummern 5 und 6 in ein festes Haus.

Das Museums zeigt Sonderausstellungen verwandter Künstler; es finden regelmäßig Veranstaltungen statt, Konzerte, Filmvorführungen, Diskussionen; das Museum nimmt an dem Langen Nächten der Museen teil, präsentiert sich in anderen Museen und Kunstausstellungen.

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