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Kurze Texte für lange Ohren

ohr

 

 

 

 

 

 

 

 

Bild: wikipedia, Lars Chittka; Axel Brockmann

 

Wenn Steine im Ohr hängen bleiben

Ab und an, manche sagen öfter bis regelmäßig, ist zu beobachten, wie Menschen aus einem Schankraum, einer Räumlichkeit, in der alkoholische Getränke ausgeschenkt werden, herauskommen und unter einem Schwankschwindel leiden. Sie torkeln hin und her, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere. Dieses Wanken geschieht in einem beachtlich regelmäßigen Rhythmus.

Es ist nicht so, dass diese Personen in dem Schankraum zu viel Verwirrendes gehört hätten, dass sie nun völlig hin und her gerissen sind. Die rechte Partnerschaft am Tresen forderte die volle Aufmerksamkeit, die linke Seite ebenfalls. Das hin-und-her Gehöre verwirrt gehörig, so dass viele lechts und rinks velwechsern (1).

Dies löst einen Hörschwindel aus und nicht den typischen Schwankschwindel, der nach einem Besuch des Schankraums zu beobachten ist.
Beide Schwindeleien hängen mit dem Ohr zusammen. Bei der einen mit dem Gehörten, bei der anderen mit den Steinen.

Die verwirrenden Klänge des „rechte Seite-linke Seite-Gehöres“, gelangen in das Ohr und werden dort für das Gehirn aufbereitet. Während ihrer Ohrwanderung streifen diese Klänge in dem Labyrinth des Innenohrs einen Haufen herumhängende Steine, die Otolithen.

Diese Steine sind an Härchen festgeklebt und in Flüssigkeit eingebettet. Je nachdem, wie sie dort in dem Saft herumhängen, signalisieren sie dem Hirn, ob der Körper stark nach rechts oder links gebeugt ist. Diese Meldungen und das Gegensteuern ermöglichen den aufrechten Gang (2).

Die in diesen Schankräumen üblichen Getränke haben die Eigenschaft, die Flüssigkeiten im Ohr einzudicken, mit der Folge, dass die Steine im Labyrinth sehr träge rollen und verzögert ihre Position an das Gehirn senden.
Das ist ein ziemliches Problem. Schwankt der Körper nach rechts, reagiert das Gehirn erst kurz vor dem Fall, dann richtet sich der Körper wieder auf, um sich nach links zu beugen. Das geht nun hin und her, und dies ist das typische Geschwanke eines Schwankschwindels nach dem Besuche eines Schankraums.

Und wenn die Schwankschwindelei einhergeht mit einem Nachdenken über das am Tresen hin-und-her Gehörte, also mit einem klassischen Hörschwindel...
...das ist ja dann ein fürchterliches Durcheinander, an das ich gar nicht denken möchte.

1) Ernst Jandl
lichtung - manche meinen / lechts und rinks / kann man nicht velwechsern / werch ein illtum
2) auch die Augen, die Nervenden der Haut und andere Faktoren sind dabei beteiligt

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Vom Hören und Sagen

Alle wussten, dass Frau Reichert die Schuldige ist. Das war klar. Jeder sagte es jedem, und diese sagte es weiter. Es wurde darüber allgemein berichtet. Überall sagten es alle und es war an allen Ecken und Enden zu hören.
Niemand wusste, was Frau Reichert getan hatte, das war auch nicht der Gegenstand des Hörens und Sagens. Sie war schuldig, das war allen bewusst. Warum Frau Reichert schuldig war, spielte keine Rolle, davon hörte und sprach niemand, das kam niemandem zu Ohren. Sie war schuldig.

Das sagte jede und jeder, auch die, deren Ohren und Münder nicht mehr so in Schuss waren, ausgeleiert und ausgefranst von dem vielen Hören und Sagen. Diese redeten besonders eifrig, ganz besonders laut und viel und mit Nachdruck, dass Frau Reichert schuldig sei. Es hörte sich an, als ob es ihr letztes Hören und Sagen sei.

Niemand wollte wissen, warum Frau Reichert schuldig ist. Es erübrigte sich auch, da alle wussten, dass Sie schuldig sei.
Je mehr darüber gehört wurde, je mehr alle es sagten und wussten, um so bestimmter war es, dass Frau Reichert schuldig war.

Frau Reichet ist die Schuldige.

Was ist sicherer, als wenn alle hören, als wenn alle sagen, dass Frau Reichert schuldig ist. Die Schuld kommt aus jedem Munde, erreicht jedes Ohr. Darüber wird auch offen und nicht hinter der vorgehaltenen Hand gesprochen. Es ist an jeder Ecke zu hören.

Niemand wagt es anzuzweifeln, dass Frau Reichert vom Hören und Sagen schuldig war. Wie sollte jemand auch.

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Das geduldige Ohr

Was das Ohr nicht alles zu hören bekommt, selbst das, was nicht für das Ohr bestimmt ist, bekommt das Ohr zu hören, muss es hören. Es kann nicht weghören, wie das Auge wegschauen kann oder einfach weggehen.
Es ist das Schicksal des Ohrs, alles zu hören, auch das, was es gar nicht hören möchte. Selbst wenn alles schläft, hört das Ohr aufmerksam zu, was es eventuell zu hören gibt, zu hören geben könnte.

Das Liebesgeflüster, das Säuseln von Liebreizenden, auch ein Geschimpfe, oder wenn beleidigt, geschrien und gezetert wird, hört sich das Ohr das geduldig an.

Es ist neutral das Ohr, es hört, es hört das, was zu ihm dringt und das genau, Ton für Ton.
Es denkt sich nichts, was es auch hört, es wertet nicht, es wählt nicht aus.

Es hört das Ohr, es hört das alles, was es zu hören gibt.

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Das müde Gehör

Eines Tages, nachdem das Ohr schon so viele Jahre, jahrein, jahraus gehört hatte, alles hörte, war es müde geworden und wollte nicht mehr in dem vorgegebenen Tempo hören.
Es wurde müde und forderte seine eigene Zeit.

Aber nicht so, wie man meinen könnte, dass das Ohr von nun an nicht mehr alles hörte, nicht mehr genau zuhörte oder gar Gesagtes überhörte. Oh nein, es hörte weiterhin aufmerksam und achtsam hin, hörte ganz genau, nur langsamer und mit Bedacht. Das Ohr ließ sich mit seinem Hören Zeit.

Wenn ein Mund etwas zu sagen hatte und schon längst mit seiner Rede fertig war, hörte das Ohr immer noch, oft erst den Anfang der langen Rede.

Für manch einen Sprechenden, wenn er oder sie auf eine sofortige Antwort hoffte, hatte das fatale Folgen, Der Angesprochene konnte nicht gleich reagieren, weil er noch nicht alles gehört hatte, weil sein Ohr sich Zeit ließ mit dem Hören. Je länger die Rede, umso länger brauchte das Ohr zum Hören.

Der eine und die andere der Sprechenden hatten damit besondere Probleme. In der Zeit, in dem das Ohr noch hörte, dachten sie über das, was sie selbst gerade sagten nach und wollten plötzlich das Gesagte revidieren. Es war aber schon gesagt und schon beim Ohr, das es nun langsam hörte. Es war nicht mehr zurückzunehmen. So überlegte sich der Eine, wie die Andere es sich plötzlich zweimal, was sie dem Ohr zum Hören gaben.

Die armen Schwätzer, deren eigenes Ohr ermüdet war, hielten es kaum aus, wenn sie sich selbst nicht ständig hörten, so wie sie sich hören wollten, sich verzögert hörten und nachdenken mussten, was sie sich gerade sagten.

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Ein Ohr und ein Mund im Streit

Einmal stritten sich das Ohr und der Mund, wer von ihren wichtiger sei.
Das Ohr meinte, dass es ohne es nicht ginge.

Worauf der Mund sagte, wie sollte denn das Ohr etwas hören, wenn er nicht zu ihm reden würde.
Wo auf das Ohr erwiderte, ohne es könne der Mund so viel reden wie er wolle, ohne Ohr wäre sein Gerede stumm.
Da lachte der Mund und sagte dem Ohr, dass es ohne ihn, den Mund, nichts zu hören gäbe.

Das Ohr wiederum lachte nun noch lauter als der Mund und ward nun wütend. Dass es nun die Faxen satt hätte von dem vorlauten, unklugen Mund, dass es ihn nicht mehr hören wolle.
Worauf der Mund schrie, dass es ihm nun zu blöd geworden sei, dem Ohr auch nur ein Wort zu sagen. Was das Ohr aber nicht mehr hören konnte, da es schon auf Stummheit geschaltet war.

Nun ward es still.

Das Ohr hörte nicht mehr, der Mund sprach nicht mehr.

Nach kurzer Zeit hielten es beide nicht mehr aus. Der Mund, der zum Reden gemacht war, das Ohr, das zum Hören vorhanden war, was sollten sie, ohne dass die sich gegenseitig bedienten?
So schlossen sie Frieden miteinander. Sie sahen ein, dass sie nicht ohne einander konnten. Das Ohr fing wieder an zu hören, der Mund fing wieder an zu sprechen und alles machte wieder Sinn.

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In das eine Ohr hinein,
aus dem andren Ohr hinaus.

Eines Tages plumpste es. Das Ohr wollte das, was es hörte nicht mehr hören, es stellte auf Durchzug. Alles was in das eine Ohr hinein ging, fiel aus dem andern wieder hinaus. Dem Kopf wurde es ganz anders. Jedes Mal, wenn bei dem einen Ohr etwas rein kam, sauste es ohne Halt durch den Kopf, um auf der anderen Seite wieder heraus zu fallen. Dies Gesause war aber nicht leise, es verursachte ein großes Getöse, ein Gerumple und erschütterte jedes Mal den ganzen Kopf.

Ein Durchzug verursacht in Räumen, in denen er durchzieht viel Unruhe. Regale fallen um, Bücher aus dem Schrank, Türen und Fenster knallen, Papiere wirbelt es herum, und noch viel mehr. Genauso brachte der Durchzug den Kopf, der aus ach so vielen Hohlräumen und Löchern besteht, aus tausenden Winkeln und Ecken gebaut, ziemlich durcheinander.

Für so viel Unruhe und Zug war kein Kopf geschaffen. Ihm wurde schwindelig. Dem Kopf, der eher eine aufbewahrende Funktion hat, ein ruhiges, gemächliches Archiv ist, in dem der aufrechte Gang, die vitalen Funktionen, das Denken und Fühlen untergebracht ist, tat der Durchzug, der wehende Wind nicht gut. Ihm wurde übel. Er musste verdammt aufpassen, dass seine ausgeklügelte Ordnung nicht durcheinander geriet, auf dass er nicht plötzlich die Beine mit den Händen verwechselt, das Herz mit den Nieren, den Magen mit den Lungen, die Nase mit dem Knie etc.

Als der Kopf das Ohr nun warnte, dass er, wenn es so weiter ging, es, das Ohr, mit dem großen Zehen verwechseln würde, dass die zuständigen Regale schon wackeln würden, bekam das Ohr große Angst. Denn eins wollte es auf keinen Fall, es wollte nie und nimmer mit den großen Zehen verwechselt werden.

Sofort schloss das Ohr den Durchzug, im Kopf wurde es wieder ruhiger, die alte Ordnung wurde wieder hergestellt, und das Ohr hörte wieder, und der Kopf regelte wieder, was es zu regeln gab.