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fische

Über Luftfische, Makrelen
und von Bildern mit Vergangenheit.


Zum 70.


Als Anna mich fragte, ob ich für den runden Geburtstag ihres Vaters etwas schreiben könnte, irgendetwas aus einem gemeinsamen Urlaub, oder wie wir zusammen gekocht hatten, irgendeine Episode aus der fast 60jährigen Freundschaft, dachte ich als erstes, ich weiß nicht warum, an unsere Reise nach Irland und an ein Foto, das neben vielen Erinnerungen von dieser Reise übriggeblieben ist.
Ich suchte das Foto, und als ich es fand war ich, gelinde gesagt, sehr irritiert. Der Fisch war in meiner Erinnerung viel kleiner und wir, Wolfgang und ich, viel jünger. Was war geschehen?

Es muss Anfang/Mitte der 1970er Jahre gewesen sein, noch bevor Wolfgang nach Österreich ging und ich nach Berlin.
Die irische Volksmusik war angesagt, überhaupt Irland, da wollten wir, wie so viele damals, mit den „Irischen Tagebüchern“ von Heinrich Böll unter dem Arm, hin.
Ich kaufte extra für diese Reise ein altes, frisch hergerichtetes Auto, einen VW 1600 Variant, dieser hielt von Süddeutschland bis Bonn durch, dort blieb er mitten auf der Autobahn stehen und ich lernte dabei, was ein „Kolbenfresser“ ist. Wir wussten nicht, dass man in ein Auto auch Motoröl nachfüllen muss. Meine Eltern retteten uns. Sie tauschten ihr Auto mit dem unsrigen, warteten, bis unser Auto einen Austauschmotor bekam, fuhren damit zurück nach Süddeutschland und wir erreichten mit ihrem Auto pünktlich die Fähre, die uns nach England übersetzte.
An einem See, vielleicht war es der Lake Vyrnwy oder der Llyn Tegid, auf jeden Fall war der See auf der Strecke zu der Fähre nach Dublin, zelteten wir. Da wir viel über die berühmten Lachsbestände der Seen Englands lasen, mieteten wir uns, für einen Nachmittag, ein Ruderboot.
Als die Vermieterin des Bootes uns Tipps zum Angeln geben wollte, dann aber sah, wie wir mit Gummistiefeln, Angeln, Kescher, mit dem ganzen Angler-Equipment ausgestattet zum Boot gingen, brach sie, mitten im Satz, ihre Rede ab: Uns bräuchte sie keine Ratschläge zu geben, wir seien ja Profis.
Dass die Frau uns das ansah, dass wir Könner waren, bestätigte und erfüllte uns mit Stolz.
Wir hatten etliche Bücher über das Angeln gelesen, geistig erbauliche Literatur über das Wesen, über das Sinnhafte des Fischens, über die Hingabe des Anglers an sein Tun, über den Fisch in Literatur und Kultur. Dieses, unsere gesamte Angelkompetenz, wurde gerade, nun gerade von einer Frau aus der Praxis bestätigt. Man sah uns Zweien unser profundes Wissen an.

Nun ruderten wir auf den See. Bei anderen Booten sahen wir, wie Fisch nach Fisch an Angeln aus dem Wasser gezogen wurde.
Nun waren wir an der Reihe. Wir öffneten eine von zuhause mitgebrachte Dose mit schwäbischer Fleischwurst, eine so genannte Lyoner, und befestigten Stückchen der Wurst an unseren Angelhaken. Der Lachs, von Natur aus ein wissbegieriger, neugieriger Raubfisch, wird auf die schwäbische Lyoner, die er bisher nicht kennt, sofort aufmerksam werden und anbeißen.
Nach einer Stunde biss noch immer kein Fisch an. Wir hatten auch keine Lyoner mehr, da wir sie, hungrig geworden vor lauter Warten, selbst aufaßen.
Nun versuchten wir es mit Brot, mit englischem Brot. Wahrscheinlich fremdelt der Lachs mit der Lyoner, aber nun mit heimischem Brot, wird er ganz bestimmt anbeißen.
Kein Fisch biss an.
Schon mürrisch geworden, musste nun, ganz klassisch, ein bunter Blinker herhalten.
Kein Fisch biss an.
Dafür hatten wir wiederum Verständnis. Dem Lachs schien die bunte Ästhetik der Blinker genauso widerlich zu sein wie uns. Das löste bei uns eine intensive Diskussion zu dem Thema der Beziehung zwischen Objekt und Subjekt und deren Wechselwirkung und Abhängigkeiten, zwischen Angler und Fisch, aus.
Kein Fisch biss an, nur die Angler um uns herum zogen einen nach dem andern in ihr Boot.
Nun vertieften wir uns in die Kulturtheorien des Angelns, wackelten, ohne zu fischen, noch 2 Stunden über den See. Sollen uns doch die stummen, dummen Fische den Buckel herunterrutschen, wir wissen über ihre Wesenheit mehr Bescheid, als sie über sich selbst.
Schweigsam und fischlos ruderten wir zurück, lieferten schamhaft das Boot ab und beantworteten keine Fragen nach Anglerglück. Bei unserem Zelt angekommen fingen wir an, den nicht gefangenen Lachs zuzubereiten.
Wie es Menschen gibt, die Luftgitarre spielen, ich mutmaße meist Männer, die Jimi Hendrix, Eric Clapton, Pete Townshend oder andere Rockmusiker für ihre Luftnummern benützen, so handhabten wir die Zubereitung eines Luftlachses.
Wir nahmen den vermeintlich gefangenen Lachs und bereitenden daraus zwei kräftige Luftfilets. Die Stücke rieben wir kräftig mit Knoblauch ein, träufelten auf beide Stücke den Saft einer ganzen Limette. In einer Sojasauce verquirlten wir Honig, etwas Chilipulver und gemörserten Koriander, bestrichen damit unsere feinen Luftlachsfilets, die wir nun, auf dem inzwischen abgebrannten aber noch glühenden Lagerfeuer kurz durchgrillten.
Unser erster gemeinsam, authentisch gefangener Luftlachs war herrlich und ist bis heute ein leibhaftiger Gaumenkitzler, wenn ich mich daran zurückerinnere.

Das Rätsel um das wiedergefundene Foto konnte aber diese, meine Erinnerung, nicht lösen. Je mehr ich das alte ausgeblichene Polaroidfoto anschaute, desto fremder und rätselhafter wurde es mir. Wir beide sind dort eindeutig zu sehen, aber der Fisch irritierte mich noch mehr als unsere Veralterung. Warum war er, der Fisch so groß und wir auf dem Foto von damals so alt wie wir heute sind?

Ich beschloss eine im Museumswesen sehr gefragte Bildanalytikerin zu Rate zu ziehen. Eine bulgarische Expertin für Bildanomalien. Ich werde sie hier Frau Yordanova nennen. Ihren Klarnamen will sie nicht genannt sehen, da sie offiziell nie in Erscheinung tritt, obwohl sie von vielen namhaften Museen, nicht nur Berlins, zu Rate gezogen wird, wenn es um nicht zu erklärende Bildphänome geht. Ich hatte schon einmal mit ihr zu tun. Damals ging es um einen handschriftlichen Brief, den Oskar Huth, ein Patron meines Museums, posthum von E. Th. Hoffmann bekam. Der Brief war, wie sie feststellte, mit einer blickreagierenden „Zaubertinte“ geschrieben, deren Buchstaben, je öfter sie gelesen werden, verblassen und letztendlich verschwinden.
Ich rief nun wieder Frau Yordanova an, erzählte ihr von dem mysteriösen Foto. Sie wurde neugierig und schlug ein Treffen in einer kleinen Parallelstraße der Sonnenallee, im Berliner Bezirk Neukölln, vor. Es sei ein arabisches Cafè mit exzellentem Gahwa, der arabischen Art Kaffee zuzubereiten. Außerdem sei das Café noch nicht von Touristen oder Neu-Berlinern besetzt, die jeden Preis für einen schlechten Cappuccino, mit was für einer Milch auch immer, akzeptieren.
Zur verabredeten Zeit fand ich mich in dem Café ein. Frau Yordanova saß an einem Tisch und spielte mit einer gegenübersitzenden Frau ein dem Mancala verwandtes Bohnenbrettspiel. Ich solle mir einen Gahwa bestellen, sie wäre gleich so weit.
Als sie mit dem Spiel fertig war, drehte sie sich mir zu.
Ich zeigte ihr das Polaroidfoto. Sie nahm es in die Hand, schaute uns Abgebildete und den Fisch genau an, drehte es hin und her und konzentrierte sich auf die Ränder des Bildes. Nach einer kurzen Weile meinte sie, dass sie das Foto an eine alte „geheime“ und bis heute verschwiegene Bildtradition erinnere. Auf Fotos sei ihr dies noch nicht begegnet, aber sie las in der einschlägigen Fachliteratur, dass so etwas auch bei dieser Bildtechnik, der Polaroidfotografie, möglich sei.
In der Malerei sei dies öfter beschrieben, und sie durfte schon mehrere Bilder dieser Art begutachten. Die meisten Museen leugnen, solche Meisterwerke in ihrem Bestand zu haben. Da jegliche Farbe altert, wie auch die abgemalten Objekte, die Originale sozusagen, selbst einem Alterungsprozess, der Vergänglichkeit, unterworfen sind, so verändert sich, unter bestimmten Umständen, das Aussehen eines Bildes analog zu dem abgemalten Objekt. Eine Synchronität des Alterns. In der Quantenphysik sei dieses Phänomen schon länger bekannt. Es ist eine riesengroße, nie endende Aufgabe für Restaurierungswerkstätten, solche Gemälde auf dem immer gleichen Alter zu halten, was im Endeffekt genau so hoffnungslos sei, wie Verjüngungskuren an den dort abgebildeten Originalen.
In der Literatur taucht das Motiv des alternden Bildes öfter auf. Oskar Wilde, als berühmtestes Beispiel, widmete einen ganzen Roman einem alternden Bild. Es sei seine dichterische Freiheit gewesen, die Geschichte so zu verdrehen, dass er daraus einen spannenden Roman einer trostlosen, selbstsüchtigen Person, des Herrn Dorian Gray, schreiben konnte.
Frau Yordanova fragte, ob sie das Bild mitnehmen dürfe, sie möchte es einer chemischen ober vielmehr einer „alchemistischen“ Analyse unterziehen. Ich bräuchte mir keine Sorge machen, sie entnehme nur eine Nadelspitze voll von der chemischen Tasche am unteren Teil des Polaroidfotos, nicht aus dem Bild, das Bild selbst bleibe unangetastet.
Ich willigte ein.


Drei Wochen später, der gleiche Tisch, im gleichen Café.
Sie legte das Foto zwischen uns, verglich mehrmals das Foto mit mir und lächelte dabei merklich erheitert und forderte mich auf, zu erzählen wie es zu diesem Polaroidfoto kam.
Ich erzählte von dem misslungenen Lachsfang auf einem englischen See, wie wir 10 Tage später, an einer kleinen idyllischen Bucht, an der Westküste Irlands, zwischen ein paar verfallenen Fischerhütten zelteten und einen neuen Versuch, Fische zu fangen, unternahmen. Diesmal sollten es Makrelen sein.
Wir wussten genau, wie wir das anstellen mussten. Wir bastelten ein sogenanntes Makrelenpaternoster mit fünf einzelnen losen Haken an einer Schnur. Bestückten die Haken mit Würmern, die wir unter Steinen am Strand fanden und warfen, an einer langen Schnur, die Köder von einer Felsenklippe weit in das Meer.
Wir fischten und fischten und kein Fisch biss an. Keine Makrele wollte für uns ihr Leben verlieren.
Weit draußen auf dem Meer war die ganze Zeit ein Boot zu sehen, einheimische Fischer, die immer wieder Netze auswarfen und diese unter großen Mühen einholten.
Daraufhin wurde uns klar, dass diese Fischer, die Einheimischen, uns die Makrelen wegschnappen, dass wir unter diesen Umständen kaum Chancen hätten, Makrelen zu fangen.
Das Fischerboot kam näher und machte in der Bucht fest. Es waren zwei Fischer, die nun aus großen Kübeln ihren gefangenen Fisch in einen bereitstehenden Pick-up luden.
Wir schauten, ja starrten sie gebannt an.
Als die Fischer alles verstaut hatten, kamen die zwei Männer in ihren hüfthohen Gummistiefeln auf uns zu und warfen uns wortlos einen kleinen mickrigen Fisch vor die Füße. Einer der beiden Männer bugsierte uns wortlos an die Wand einer der verfallenen Hütten und drückte uns einen zweiten kleinen Fisch so in die Hand, dass wir ihn zusammen vor uns hielten. Er sprang zur Seite und der andere Mann fotografierte uns mit einer Polaroidkamera, zog des belichtete Bild heraus, wartete nicht bis es sich entwickelte, sondern warf es uns, ohne es anzuschauen, vor die Füße, zu dem dort liegenden Fisch. Nun gingen beide zu ihrem Auto und fuhren weg. Das Ganze geschah schweigend, nur die Brandung des Meeres war zu hören. Nun standen wir da mit zwei kleinen lausigen Fischen und einem sich selbst entwickelnden Foto.
Das war‘s dann.
Später grillten wir unsere geschenkten Fische. Sie waren miserabel schlecht, total vergrätet, wahrscheinlich gelten sie als ungenießbar, was uns aber nicht abhielt, dies alles schön zu reden und den Fisch als besonders interessant und echt authentisch zu bezeichnen. Wir hatten ihn geschuppt, mit echtem Meerwasser gesalzen und mit wildwachsender Minze gefüllt, um ihn danach zu grillen. Wir aßen ihn mit merkwürdigem Genuss.

Nun, so viele Jahre später, vor einigen Wochen, fand ich das Bild wieder und staunte nicht schlecht, dass wir auf dem Bild nicht so aussahen, wie ich uns in Erinnerung hatte; besonders der inzwischen so groß gewordene Fisch irritierte mich extrem.
Frau Yordanova hörte aufmerksam zu und bestellte für uns beide einen neuen Gahwa.
Als der Kaffee in kleinen, bunt bemalten Tassen vor uns auf dem Tisch stand, erklärte sie, dass ihre anfängliche Vermutung bestätigt wurde. Es wäre der Saft einer bestimmten Qualle, der dazu verwendet wird. Aus den Zellen des Außenschirms der Meduse der Gattung Turritopsis könne man eine flüchtige Substanz gewinnen, die, wenn sie mit einem Träger, zum Beispiel mit Ölfarben zusammen, auf ein Bild, zum Beispiel ein Portrait, aufgetragen würde, das Bild zeitgleich mit der abgebildeten Person altern ließ. Da die Substanz so flüchtig sei, dass sie nicht lange transportiert werden kann, entstehen alle dieser Bilder in der Nähe eines Meeres, in dem diese Quallen beheimatet sind. Wahrscheinlich sei den Fischern das mit den Quallen bekannt gewesen und sie hätten die Substanz, kurz bevor sie das Foto aufnahmen, in eine der Entwicklungsflüssigkeiten des Polaroidfotos eingespritzt, was einfach zu bewerkstelligen sei.
Ich solle mich nicht wundern, dass der Fisch, den ich aus meiner Erinnerung mit 20 cm beschreibe, immer größer wird. Meine Erinnerung sei schon richtig. Fische würden auf solchen Bildern nicht altern wie wir Menschen, wie wir zwei Abgebildeten auf dem Foto, Fische würden immer weiterwachsen.


Auf meine Frage wie das denn sei, wenn einer der Abgebildeten stirbt, lachte sie nur kurz auf und meinte ich solle warten bis der Fisch den Boden erreicht, das sei spannender. Mehr wollte sie dazu nicht sagen.
Wir unterhielten uns noch über Robert Filliou und seine Nachdichtung von japanischen Haikus, über die japanische Malerei, die besonders geschickt bei der Abbildung von Quallen ist, verabredeten uns in einigen Wochen bei mir im Museum, wo sie eine Skulptur des Weltraumhundes Laika anschauen und einen Blick auf ein Hochzeitfoto werfen wollte. Dann verabschiedeten wir uns und gingen unserer Wege.