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In Halle Neustadt


Es ist klar abgegrenzt. Hier der Park, dort die Häuser.
Sind dies hier die berühmten Y-Hochhäuser, die Vorzeige-Hochhäuser der DDR Baukunst? Ich radele staunend, hoch schauend an ihnen vorbei, zwischen ihnen durch und bin im Zentrum der Neustadt mit der S-Bahn.
Halle-Neustadt war das Vorzeigeprojekt sozialistischer Baukunst. Die bürgerliche Bauweise war überwunden, die neue sozialistische Stadt war geboren. 1969 wurde die Leistung auf einer Briefmarke gewürdigt. Die Neustadt wurde zu einem begehrten Wohngebiet, großzügig, luftig gebaut, mit viel Kunst um und an den Häusern und mit einer intakt funktionierenden Infrastruktur. Gerne zogen Familien aus ihren unsanierten, heruntergekommenen Altbauwohngen in die modere, nach den Ideen der sozialistischen Ingenieure, Architekten, Stadtplaner, Parteifunktionäre, Ideologen erbauten Stadt. Es war anfangs ein Privileg, hier zu wohnen. Die Faszination starb im grauen Alltag.
Ich entsinne mich, dass ich um 1985 eine Frau kennenlernte, die erzählte, dass sie mit ihren zwei Kindern in Halle-Neustadt, im „Getto“ wohne. Ich erinnere mich deshalb daran, weil, wie sie „Getto“ sagte, Stolz und Abscheu mitschwangen.

Ich stehe nun mit meinem Fahrrad hier im Zentrum der Neustadt-Halle, staunend und fasziniert. Ich bin eingeklemmt. Auf der einen Seite der zur Schopping Mall umgebaute S-Bahnhof, Parfümerien, Media Markt, Gesundheits-Zentrum, Discounter, Banken, Einkaufszentren, Spiele-Salons, Polizeistation, Männermode, Frauenmode, Kindermode, Einrichtungshäuser und und und, und wenn ich mich umdrehe die sogenannten „Scheiben“.
Fünf zentrale 18 Stockwerke hohe Häuser. Vier der „Scheiben“ sind seit Jahrzehnten entmietet, dem Vandalismus preisgeben. Sie stehen als graue entfensterte Betonskelette dem fröhlich positiven Einkaufsparadies gegenüber. Niemand weiß, was damit anfangen. Nur eine „Scheibe“ ist belebt, in ihr ist Halles Jobcenter untergebracht. Welch eine ironische Symbolik zwischen den entmieteten, leeren, funktionslosen Häusern.
Ich fotografiere die Häuser und werde von einem Mann, seine Plastiktüte überwiegend mit Bierdosen gefüllt, angepöbelt. „Was fotografierst du hier, das ist hässlich, lass das sein. Hör auf zu fotografieren, das ist die Schande der Neustadt, die Schande, seit 28 Jahren die Schande, wie das aussieht, was machst du mit den Fotos? Das ist alles nur Dreck und das muss weg“. Während er mich anschreit, sehe ich seine Zähne, die mit den „Scheiben“ auf die er schimpft, interessanterweise sehr harmonieren. Will er fotografiert werden?
Hinter diesem Mann lese ich in großen Lettern den Leitspruch des Einkaufszentrums „Einkaufen - Erleben“. Bei einem Schaufenster steht groß „Kaufen macht glücklich“. Die ganze Architektur der „Shopping Mall“ scheint auf schnellen Umbau ausgelegt zu sein. Schnelles Kaufen, schnelles Geld, schneller Umbau, neue Mode, neue Ware, nichts ist von Dauer, alles ändert sich - lebe schnell, effektiver, optimierter. Eine ständige Dekonstruktion.
Stehen die völlig entkleideten, enthäuteten Häuser gegenüber zur Warnung? Vor was warnen sie mich? Müssen sie so entehrt, fast beängstigend zur Schau gestellt werden? Wie man früher die Köpfe der Enthaupteten auf Spießen zur Schau stellte? Welche Angst soll minimiert oder abgewehrt werden? Sollen die „Scheiben“ in ihrem wahrhaft traurigen Zustand für immer als Exempel, für was, hier stehen? Warnen sie uns?
Sollen sie mich zu noch schnellerem Einkaufen animieren? “Genieße, kaufe den Augenblick, schnell ist er vorüber, schau nach gegenüber.“

Ich radelte angewidert weiter.

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