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RiemenWie sich der Husar Curt Friedrich Ernst von Watzdorf zu Wiesenburg
so lange am Riemen riss bis er riss
oder
Wie aus einer Überlebensstrategie eine Redensart wurde

 

Am Anfang des 20. Jahrhunderts tauchen zwei neue Begriffe in der deutschen Umgangssprache auf: „sich am Riemen reißen“ und der Begriff „Schock, unter Schock stehen“.

Beide Begriffe entstammen der militärischen Kultursprache, beide Begriffe beschreiben einen psychischen Prozess. „Sich am Riemen zu reißen“ soll heißen, sich „nicht gehen zu lassen“, der Betreffende soll sich seinen Gefühlen, seinen momentanen Empfindungen nicht hingeben, er soll sie, und sich, überwinden und sich an einem „Höheren“ als dem Momentanen orientieren; es ist ein Appell, sich selbst, seine Weichheit zu verleugnen zum Zwecke eines Besseren.

Das Wort „Schock“ beschreibt einen Zustand, in dem ein „ am Riemen reißen“ nicht mehr hilft, wo die Gefühle, das Erlebte nicht mehr einzuordnen sind, wo der „Schockierte“, der „Geschockte“ sich nicht mehr orientieren kann, wo alle bisherigen Erfahrungen und Verarbeitungsstrategien versagen. Es ist ein Zustand einer großen geistigen Erschütterung, die oftmals mit somatischen Reaktionen einhergeht.

Nicht zufällig erscheinen beide Begriffe während des ersten Weltkrieges. Der von Sigmund Freud beschriebenen Macht der Psyche konnte sich die Medizin nicht mehr entziehen, was sie allzu gern getan hätte. Konnten doch die fortschrittlichen Mediziner mit der Anerkennung einer Psyche das erste Mal den Zustand beschreiben, den sie schon bei Eisenbahnkarambolagen beobachtet hatten: die plötzliche Totalveränderung eines Menschen nach einem Unfall ohne irgendwelche äußerlichen Traumatisierungen. Die Ärzte im Kriegseinsatz beobachteten das gleiche Symptom bei Soldaten und bezeichneten den Zustand als „Schock“. Den Begriff entnahmen sie einer Schlachtenordnung des Mittelalters. Ein Schock bezeichnete einen Haufen von Spießträgern, die eine lebendige Mauer bildeten und eng geschlossen auf den Feind zugingen. Trafen zwei Schocks mit gedeckten Schilden aufeinander, war der Aufprall oftmals so groß, dass die Soldaten torkelnd umfielen, ohne gestochen worden zu sein, sie waren „geschockt“, wie man daraufhin den Zustand nannte.

Während des ersten Weltkrieges wurden zum ersten Mal Soldaten aufgrund eines „Schockzustandes“ kriegsuntauglich geschrieben und an die Heimatfront zurückgeschickt, der Zustand, der Begriff, wurde unter diesem Namen zum ersten Mal in großer Zahl aktenkundig.

Die Redewendung „sich am Riemen reißen“ wurde gleichzeitig wie der Begriff des „Schocks“ populär. Einige Medizinhistoriker sehen ihn als Gegenreaktion zum „Schock“ an. „Sich am Riemen reißen“ wurde meist von den Ärzten angewendet, die vom „Schock“ und Derartigem wenig hielten, sondern sich auf ein absonderliches Seelenleben der Soldaten beriefen. Sie vertraten die Meinung, dass die Soldaten, die unter einem sogenannten „Schock“ litten, nur verweichlichte Memmen seien. Sie sollten sich nur „am Riemen reißen“, um wieder verwendungsfähig zu werden und sei es nur, um in einem der Schützengräben in Ehren für das deutsche Vaterland zu fallen. Dies sei besser als verweibischt in irgendwelchen Anstalten ihren, vor dem Feind feigen Körper auszuruhen und unehrenhaft weiterzuleben .

Die Redensart „Reiß dich am Riemen“ hörte man nach dem ersten Weltkrieg in ganz Deutschland von den aus dem Krieg zurückkommenden Vätern. Sie führten damit in den Familien, besonders bei ihren Söhnen, den verlorenen Krieg weiter, um ihn, zumindest privat, doch noch zu gewinnen.

Die Redensart selbst stammte von einer Schar preußischer Garde-Husaren, die in dem zurückliegenden Kriege keine Rolle mehr gespielt hatten, da es der erste industriell geführte Krieg war, in dem Materialschlachten entscheidender waren als auf Tapferkeit getrimmte Husaren.

Der Kommandeur dieser preußischen Garde-Husarenschar im deutsch-französischen Krieg 1870/71, Curt Friedrich Ernst von Watzdorf, erfand das Verfahren „sich am Riemen zu reißen“, benützte die Methode anfänglich sehr erfolgreich bei sich selbst und propagierte sie danach bei seinen Untergebenen.

Curt Friedrich Ernst von Watzdorf war ein feinsinniger und feinfühlender Mensch. „Ach, hätt ich denn nur zwei Seelen in meiner Brust“ zitierte er immer wieder Goethe, er war aber auch ein rechter Haudegen, wenn er seine ihm untergeordnete Schar Husaren anführte.

Eine seiner Leidenschaft war das geerbte Schloss Wiesenburg im Hohen Fläming und besonders die dort von ihm begonnen Gartenausbauten sowie seine Fasanerie. Die Begeisterung für seine Pflanzungen in seinem Park zu Wiesenburg trieb ihn durch ganz Europa, um neue und immer seltenere Hölzer zu finden, die er dann seinem begabten Förster Carl Gebbers zum Anbau im englischen Stil übergab. Sein Park gilt bis heute zwischen Wörlitz und Potsdam als der schönste. Viele Kenner ziehen ihn wegen seiner Vielfalt, Ausgeklügeltheit und Eigenarten den anderen vor.

Eine zweite und sein Leben prägende Leidenschaft war seine Liebe, eine unerwiderte Liebe. Sie, die Hochverehrte, war an einen anderen, Höheren versprochen. Er lernte sie, die bis heute noch immer nicht namentlich benannte württembergische Prinzessin im jugendlichen Alter in Kannstadt, seit 1030 Bad Cannstatt, kennen, wo sie sich gegenseitig ewige Liebe und Treue versprachen. Er nahm sich vor, sein ererbtes Schloss Wiesenburg standesgemäß für seine Liebe umzubauen, um der unter ihrem Stand, nur aus Liebe heiratenden Prinzessin eine angemessene Heimstatt zu geben. Doch eines Tages kam ein geheimer Brief vom württembergischen Hof, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass aus dieser Liebe nichts werden könne, da die Prinzessin nicht selbst entscheiden könne, wessen Ehefrau sie werde. Sie gehöre nicht sich selbst, wie es bei den unteren Ständen neuerdings üblich sei, sie gehöre dem Wohl des Geschlechts, sie sei seit langem versprochen. Er solle Abstand nehmen von jeglichen Gefühlen der Prinzessin gegenüber. Der Brief war im üblichen Befehlston gehalten, wie ihn der hohe Adel dem unteren Adel zukommen ließ und war mit Walter Ulrich unterzeichnet. Den Brief vernichtete er, wie es im Postskriptum gebieterisch verlangt wurde.

Franz Hardenburg, mit dem ihm die dritte Leidenschaft verband, das Dienen seiner Majestät als Husar, als Garde-Husar, schrieb in seinen Memoiren: „... Drei Tage schwieg mein Freund Kurt (Curt Friedrich Ernst von Watzdorf ist gemeint), nahm kein Essen zu sich, schwankte aufrecht wie es vereinzelt tödlich Verletzte im Kriege tun, die getroffen noch Achtung vor der Fahne zeigen, um dann ehrenvoll zu fallen, umzufallen. Der Brief schien ihn ähnlich getroffen zu haben wie eine Kugel auf dem Felde oder ein Degenhieb in einer Schlacht. Es scheint mir, dass seine spätere Krankheit, die er selbst vor mir lange Zeit verbarg, damals seinen Anfang nahm...“

Vierzehn Tage nach diesem Brief, den er als entgegen genommen quittierte, musste er zu einer angesetzten militärischen Übung ins nahe gelegene Jüterbog. Ihm war Angst und Bange. Wie sollte er als stramm, gerade stehendes Vorbild vor seiner Schar erscheinen? Wie sollte er von seinen Untergebenen verlangen, kraftvoll zu exerzieren, wo er selbst nur gebückt und niedergeschlagen stehen könne, schwankend, in sich zusammen gesunken, leidend?

Er legte seine Uniform an, er war in den letzten vierzehn Tagen abgemagert, zog seinen Koppel enger und legte seinen quer über seinen Oberkörper laufenden Riemen an und sah im Spiegel, wie er schlaff in seiner Uniform steckte, wie der Riemen traurig an ihm herunter hing.

So konnte er unmöglich erscheinen. Sich krankzumelden gab es nicht, ein Watzdorf hatte sich noch nie krank gemeldet. Er strich seinen Riemen glatt und riss, plötzlich zornig geworden, an ihm und merkte, dass er sich dadurch automatisch aufrichtete, reflexartig eine stramme Habacht-Haltung einnahm.

Dies war das erste Mal, wo ein Mann durch einen gezielten Riss am Riemen wieder eine korrekte, militärische Haltung einnahm, sich daraufhin schlagartig besser fühlte, seine Selbstbeherrschung wieder zurück gewann, seine Weichheit, sein Weibischsein überwand und wieder Mann wurde, stramm, aufrecht, bereit und hart, durchsetzungsfähig bei sich und bei anderen.

Die anschließende vierwöchige Übung überstand Watzdorf sehr gut.

Jedes Mal, wenn er sich bedrückt fühlte, seine Liebe sich unbeabsichtigt in seine Gedanken schlich, jedes Mal, wenn er an seinen Gestalt annehmenden Garten dachte, riss er sich an seinem Riemen und schon nahm er geistig wie körperlich eine andere Haltung an. Seine immer wieder auftauchende, beängstigende Weichheit wurde gerade gerückt, er stand aufrecht, war wieder Husar, Herr über einen Degen und konnte seine Soldaten vorbildlich führen.

Das, was ihm half, sollte auch seinen Soldaten helfen. Alsbald hörte man regelmäßig beim morgendlichen Appell seinen Ruf „ Reißen sich alle am Riemen“ und seine Schar stand beim Exzerzieren gerade wie eine Eins.

Wieder zurück auf seinem Schloss besprach er mit seinem botanisch bewanderten Förster die neuesten Pflanzungen, plante mit seinem Architekten Hense die neuesten Umbauten und freute sich an der immer besser gedeihenden Fasanerie, die 1875 schon über 450 Fasane zählte.

Er litt unter seiner unerfüllten Liebe und schwor sich immer wieder, gerade darum sein Schloss wie den Park prunkvoll und als etwas ganz Besonderes auszubauen. Es sollte ein Ort der Liebe werden, ein Ort des Schönen, der Gestaltung und seine Zuneigung zur Prinzessin seines Herzen dokumentieren. Aber immer wieder überkam ihn die Angst, vom Schönen, vom Gestalterischen, von der Liebe übermannt zu werden, dann zog er sich zurück, legte seine Uniform an und riss an seinem Riemen, um vermeintlich wieder Herr über sich selbst zu werden.

Eines Tages stellte sich ein leichtes Zittern ein und die konsultierten Ärzte diagnostizierten ein neuralgisches Nervenleiden. Sein nervöses Zittern und seine späteren sporadisch auftretenden Wanderlähmungen unspezifischer Art galten als unheilbar. Einmal war es die Hand, dann wieder das Bein, das lahmte, plötzlich juckte tagelang der Oberschenkel oder eine Gesichtshälfte fühlte sich taub an.

Bei seinen Husaren riss er sich in immer kürzeren Abständen stark an seinem Riemen. An dem siegreichen Krieg gegen die Franzosen, 1870/71, nahm er begeistert und gefeiert teil. Was man äußerlich nicht sah, was er selbst nicht wahrnahm, war eine aufkommende Müdigkeit des immer öfter notwendigen Riemen Reißens.

In der nachfolgenden Zeit machte sich sein Nervenleiden immer bemerkbarer, sodass er noch etliche Tapferkeitsabzeichen bekam, um dann von seinen heiß geliebten Husaren Abschied zu nehmen. Er blieb als beratender Husar den Garde-Husaren bis zu seinem Tod erhalten.

Sein Leiden nahm immer mehr zu, es übermannte ihn so stark, dass er bald einen Stock benützen musste. Er versuchte es immer wieder mit einem starken Riss am Riemen, aber es sollte ihm nicht mehr gelingen, seine erwünschte aufrechte Haltung einzunehmen. Er begleitete seinen Schlossumbau und Gartenausbau sehr aktiv, ließ sich, als er sein Bett nicht mehr verlassen konnte, täglichen Rapport geben und erlebte es noch, dass seine Methode des Riemen Reißens in einem Lehrbuch über modernen Militärdienst aufgenommen wurde.

Viel zu früh und viel zu jung verstarb er 1880 nach langem Leiden. In seinen letzten intensiven Gesprächen mit seinem Geistlichen, der ihm seelischen Beistand gewährte, soll er immer wieder über die Vor- und Nachteile eines Riemenreißens gesprochen haben. Als man ihm auf seinem Sterbelager seinen Riemen reichen wollte, winkte er mit der Hand ab und sagte: „Lasst sein, es ist genug gerissen. (lange Pause). Er ist gerissen, mein Riemen, es wurde zu viel an ihm gerissen, viel zu viel“, und schlief erschöpft ein. Sein Diener untersuchte verwundert den Riemen und tatsächlich, er stellte fest, dass der Lederfleck, der die Riementeile zusammen gehalten hatte, gerissen war.