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OhrringWarum der Schlitzohrchirurg Mathias Gotthilf Lauphner auch „Vater der Schönheitschirurgie“ genannt wird
oder
Wie die Korrektur von Schlitzohren Bürgersfrauen zur zweiten Schönheit verhalf

 

Bei der ersten großen Reichsrechtsuntersuchung 1485 stellte man fest, dass viele Übeltäter, Schurken und Ganoven, nachdem sie ihre gerechte Strafe regional abgebüsst hatten, weiterzogen, um in anderen Städten und Gegenden, in denen man sie noch nicht kannte, ihr Übelspiel weiter zu betreiben. Auf Grund dieser Erfahrung ging man immer mehr dazu über, dieses Gesindel zu brandmarken oder ihr Ohrläppchen mit einem oder mehreren Schlitzen aufzuschneiden. Dadurch waren sie gezeichnet und für jedermann erkennbar.

Die Methode der Ohrkennzeichnung war bei der christlichen Seefahrt schon Jahrzehnte lang sehr erfolgreich und disziplinierte enorm. Den aufsässigen, streitsüchtigen, den Schiffsfrieden störende Matrosen wurde ihr obligatorischer goldener Ohrring aus dem Ohrläppchen gewaltsam herausgerissen, so dass ein schmerzhaft aufgeschlitztes Ohr übrig blieb.

Dieser herausgerissene goldene Ring sollte dem Körper des Matrosen, nach einem eventuellen Ertrinken anonym an einen Strand gespült, ein christliches Begräbnis garantieren. Der goldene Ring beglich die Bestattungskosten. Ohne einen solchen goldenen Ohrring wurden die aufgefundenen ertrunkenen Körper an Ort und Stelle am Strand verscharrt. Die Aussicht auf ein solch unchristliches Ende ängstigte die Betroffenen sehr. Dazu kam, dass ein am Ohr Gezeichneter auf keinem Schiff mehr anheuern konnte. Auch im zivilen Leben achtete man bald auf eine Zeichnung am Ohr. Begegnete man einem solchen „Schlitzohr“, wusste man sofort, mit wem man es zu tun hatte: mit einem Gesellen, einem Tunichtgut, der nichts Rechtes im Schilde führte.

Diese erfolgreiche Bestrafungsart verbreitete sich bald in den freien Städten des Nordens. Betrüger, Schwindler und falsche Prediger wurden auf diese Art und Weise bestraft, „damit man sie in anderen Städten zuallererst als solche erkenne“.

Je südlicher man kam, umso unüblicher wurde diese Bestrafungsart. Es gab eine natürliche Schlitzohrgrenze. Nördlich des Mains wurde sie häufig verhängt, südlich des Flusses selten bis nie.

Die Gegner dieser Strafe argumentierten, dass es auch zu Verletzungen des Ohres kommen könne bei einem Arbeitsunfall, z.B. beim Holzmachen oder beim Pferde Beschlagen, dass es anerkannte Krankheiten gäbe, die auch Ohren entstellten. In einer von 1488 datierten Schrift werden 56 Möglichkeiten, das Ohr entstellend zu verletzen, beschrieben. Wie solle man da den Braven vom Bösen unterscheiden können, ohne einem Braven Unrecht zu tun? Eine Flugschrift von 1510 forderte: „ ...da man aber einem Üblen nicht Unrecht tun könne, solle man ihn, der Gerechtigkeit wegen, doch besser gleich hängen.“

Für alle zu Recht oder zu Unrecht Gezeichneten gab es in der kleinen schwäbischen Reichsstadt Memmingen Hilfe.

Mathias Gotthilf Lauphner, 1498 in Lindau geboren, niedergelassener Bader in Memmingen, spezialisierte sich auf Hautverletzungen, die er mit frischem Katzendarm kunstvoll zusammennähte oder auch mit Harzklebungen so meisterhaft fixierte, dass nach der Heilung kaum mehr eine Narbe sichtbar blieb. Diese Kunst beherrschte er so gut, dass er schon der Hexerei angeklagt war, aber als sich dann herausstellte, dass der Kläger nur seine Rechnung nicht bezahlen wollte, wurde die Anklage fallen gelassen und der Kläger verurteilt und körperlich erneut gezeichnet.

Memmingen war stolz auf seinen berühmten Bader, seinen Schlitzohroperateur. Von überall her kamen Menschen, um sich von Mathias Gotthilf Lauphner behandeln zu lassen.

Es war strengstens verboten, ein gerichtlich geschlitztes Ohr wieder zusammenzufügen, aber ein durch ein Arbeitsunfall verletztes Ohr wiederherzustellen, war im Sinne der Gerechtigkeit, denn ein unbescholtener Bürger sollte von derartigen Unannehmlichkeiten, wie sie ein Schlitzohr mit Recht zu ertragen hatte, bewahrt werden.

Um sich bei M.G: Lauphner zu einer Schlitzohrkorrektur anzumelden, musste der Proband ein von zwei unabhängigen Notaren beglaubigtes Schreiben vorlegen, in dem nachgewiesen wurde, dass das Ohr infolge eines Unfalles verletzt wurde. Der Unfallhergang musste detailliert beschrieben werden sowie amtlich bestätigte Zeugen benannt werden.

Memmingen hatte in dieser Zeit die höchste Dichte von niedergelassenen Notaren aller süddeutschen Städte. Man konnte sicher sein, dass die prunkvollsten Häuser Notaren gehörten.

M. G. Lauphner beschäftigte zwölf Assistenten bei ausreichendem Lohn, die sich nach sieben Lehrjahren selbst niederlassen konnten.
Seine Kunst, fast narbenlos Hauteingriffe vornehmen zu können, führte dazu, dass er immer mehr dazu gedrängt wurde, auch bei den in die Jahre gekommenen Bürgersfrauen die Kunst der chirurgischen Korrektur anzuwenden.

Nach ersten zaghaften Versuchen am Halse verbesserte er seine Methode immer mehr und wagte es, auch in sichtbare Bereiche des Gesichtes korrigierend einzugreifen. Als die Frau des Bürgermeisters eines Tages stolz mit einem fast faltenlosen Gesicht in der Sonntagsmesse erschien, konnte M.G. Lauphner sich vor Anmeldungen kaum retten.

Dies führte aber zu einem sofortigen Einspruch der geistlichen Obrigkeit, denn was Gott geschaffen, sollte der Mensch nicht in Hoffärtigkeit ändern. Solch eitle Verschönerungen seien Ausdruck des alten Glaubens, des prahlerischen katholischen, mit dem neuen, reinen, reformierten Glauben aber nicht zu vereinbaren.
Seine Kenntnisse und sein Können gab M.G. Lauphner, der leider seine Kunst nicht schriftlich niedergelegt hatte, an seine Lehrlinge und Gesellen weiter. So verbreitete sich die Kunst der feinen Hautkorrekturen von Memmingen ausgehend in ganz Europa. 1576 starb M.G. Lauphner angesehen und geachtet, d.h. vermögend, in Memmingen.

1597 beschrieb der Chirurg Gaspare Tagliacozzi aus Bologna erstmalig die Technik der Plastischen und Rekonstruktiven Chirurgie und bezog sich ausdrücklich auf Schüler des Meisters Lauphner aus Memmingen. G. Tagliacozzi spezialisierte sich auf abgeschnittene Nasen, die er in einem komplizierten, sehr schmerzhaften Verfahren wieder herrichtete. Bei miesen Ehebrechern und straffällig gewordenen Huren wurde diese Strafe des Nasen Abschneidens angewendet.

 

Literatur:
B. Wagner, Zur Geschichte der feinen Fäden. Olching, 1953.
U. Sach, Was Städtenamen aussagen. Ulm, 1973.
K. Joller, Strafen und körperliche Unversehrtheit. Osnabrück, 1975.
M. Hiller, Der Verschluss der Wunden. Berlin, 1999.
D. De Pellegrini, Deutsch-Italienische Vergleiche. Padua / Memmingen 2000.
N. Nigell, Vom Schlitzohr zur Kreation. Von den Anfängen der Schönheitschirurgie. Nürnberg, 2001.
V. Groebner, Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Mittelalter. München, 2004.