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kuli

Über eine Rohrpostverbindung von Nenzing, Europa
nach Wellington, Neuseeland
oder
Die großen Pläne des Joe Nadler

 

 

 

Vor nicht allzu langer Zeit fand ich bei einem Spaziergang über einen Berliner Flohmarkt eine alte schwarz/weiß Postkarte, auf der ein Alpendorf mit einem großen Bohrturm abgebildet ist. Beim zweiten Hinsehen erkannte ich darauf das Dorf Nenzing im Vorarlberg, bei Bludenz, im Walgau, in der Talung der rechtsrheinischen Ill. Was mich verwirrte, war der Bohrturm mitten im Dorf.
In Nenzing gibt es seit 25 Jahren einen wunderschönen und interessanten Kunst- und Kulturort, die „Artenne“, der ich seit vielen Jahren sehr verbunden bin. Aber ein Bohrturm oder Reste davon, mitten im Dorf?
Ich machte mich auf die Suche, das Geheimnis des abgebildeten Bohrturms von Nenzing zu ergründen:
Um es gleich vorwegzunehmen: Nenzing sollte das Zentrum einer zentraleuropäischen Rohrpoststation werden, die Europa mit Neuseeland verbindet.

1912 im späten Frühjahr kam der Westküsten-Amerikaner Joe Nadler nach Nenzing; er sprach ein gebrochenes, mit viel Amerikanismen durchsetztes Deutsch, aus dem eindeutig ein Vorarlberger Dialekt heraus zu hören war. Joe Nadler stieg in dem über 300 Jahre alten, bis heute existierenden Traditions-Gasthaus „Rössle“ ab. Als Erstes ging Joe Nadler zum Bürgermeister von Nenzing.
Er stellte sich als Nachkomme von aus Nenzing ausgewanderten Schwabenkindern vor. Diese seien nach Saulgau geschickt worden und wanderten von dort, sie waren fast noch Kinder, nach Amerika aus. Joe Nadler redete sehr schnell und viel. Seine Vorfahren hätten sich einem Treck in den Westen angeschlossen, bei Coalinga in Kalifornien wurde ihnen viel Indianerland, das niemand haben wollte, zugeteilt. Seine Vorfahren seien brave, tapfere Leute der Tat gewesen. Als Erstes machten sie ihren Besitz indianerfrei, kauften Rinder und bestoßten, beweideten damit ihr trockenes, dürres, mageres Land. Die Viehherden wurden größer und größer, sie wurden einflussreiche Rinderzüchter, die auch den Sheriff stellten.
1889 wurde in der Nachbarschaft das erste Erdöl entdeckt. „Ich, Joe Nadler, gerade 19 Jahre alt, baute mit einem Freund eigenhändig einen Bohrturm und fand auf unserer Ranch auf Anhieb Öl, viel Öl, sehr viel Öl. Um es kurz zu machen: Meine Ölfelder sind die größten. Ich kaufte mir Abgeordnete, ließ ein paar kleine Gesetze umschreiben und Geld, viel Geld sprudelte in meine Taschen. Um es noch kürzer zu machen, jetzt bin ich hier, um das Nenzing meiner Vorfahren an einem großen Deal teilhaben zu lassen.“

Er hörte nicht zu reden auf: Nenzing solle die Zentrale der „NADER-WOR'LD-COMPANIE“ werden. Die „N-W-C“ würde viel, viel Geld nach Nenzing spülen, mehr als seinerseits seine ersten Ölquellen. Hier könne nun jeder reich, sehr reich, werden. Das sei er seinen Vorfahren schuldig. Nenzing am kommenden Geld teilhaben zu lassen, das hätte er seiner Mutter, Gott habe sie selig, die immer Heimweh nach Nenzing hatte, auf ihrem Totenbett versprochen, und nun wäre er hier. Das Erste was er brauche, sei ein Stück Land mitten im Dorf, um einen Bohrturm aufzustellen.
Das was er vorhätte: er bohre von hier ein Loch durch die Erde, um Europa und Neuseeland mit einer Rohrpost zu verbinden. Das sei aber erst der Anfang. In New York sei ein Weltpatent auf ihn angemeldet, das ihm alle Rechte an Transportlöchern durch die Erde sichere. In Zukunft würden alle interkontinentalen Transporte mit der „N-W-C“ unter, bzw. durch die Erde geführt werden. Der kürzeste Weg um von A nach B zu kommen. Der interkontinentale Schiffsverkehr über die unsicheren Meere würde sich so erübrigen.

Der vorherrschende Glaube, dass die Erde ein Hohlkörper sei, ist Unsinn, er sei bei seinen Bohrungen nie in einem Nichts gelandet, er hätte nur Öl, Öl, Öl gefunden.
Sir Richard Oldham, der große Geologe, hat mit der neuen seismologischen Methode nachgewiesen, dass die Erde gefüllt ist und sein amerikanischer Kollege Mike Käser, dass die Erde nach außen hin, also die Erdrinde, aufgrund der Zentrifugalkraft immer dichter, fester wird, dadurch entsteht auch der Fels, aber nach innen wird die Erde immer weicher und durchlässiger. Wenn man also die erste harte Felsschicht durchbohrt, ist es ein Leichtes weiter zu bohren, bis man auf der andern Seite heraus kommt.
Die „NADER-WORLD-COMPANIE“ hätte schon in dem unterhalb von Nenzing gelegenen Wellington, in Neuseeland, das Grundstück, wo die Bohrung herauskomme, gekauft.
Mir schwebt auch ein Personenverkehr durch die Erde vor. Durch die Erde zu reisen ist viel schneller, effektiver und gefahrloser als mit den Schiffen auf den ungestümen Meeren. Schauen wir uns doch nur an, was gerade mit dem Schiff „Titanic“ passierte. Das ist die beste Werbung für unser Röhrensystem. Dies alles wird hier in Nenzing seinen Ursprung haben. Die Zukunft wird mit dem Nahmen NENZING und „NADER-WORLD-COMPANIE“ in Einem genannt werden.“

Ein paar Wochen später wurde in Nenzing, nach den Plänen des amerikanischen Tiefbauarchitekten Mac Gonzales, ein Bohrturm errichtet. Das muss der Bohrturm sein, der auf meiner Postkarte zu sehen ist. Wie es zu der Aufnahme, zu der Postkarte gekommen ist, konnte ich nicht herausfinden.
1913, im späteren Winter, reiste Joe Nadler wieder zu seinen Ölfeldern nach Kalifornien, wo sich seine Spur im Dschungel des Geldes und der Öltürme verliert. Ein Jahr später fing in Europa das große Menschenschlachten an, der erste Weltkrieg.
Der Polarforscher Alfred Wegener bekräftigte 1914 seine Gedanken zur Kontinentalplattenverschiebung; er wurde weiterhin von den meisten Geologen verlacht, nur ein kleiner Kreis beschäftigte sich mit seiner Forschung; mit dem, was heute als Basis-Wissen in jedem Schulbuch steht, dass wir auf dünnen, erkalteten, schwimmenden Platten leben, dass eine Bohrung durch die Erde unmöglich ist, und dass wir gar nicht pfleglich mit dem, auf dem und von dem wir Leben, umgehen.

Was ist aus dem Bohrturm geworden? Er verschwand, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen.

 

Literatur:
R. D. Oldham: On the Propagation of Earthquake Motion to Great Distances. In: Philosophical Transactions of the Royal Society A. London 1899

Alfred Wegener: Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Vieweg, Braunschweig 1915.

Mac Gonzales: The Borehole, Los Angeles, 1925
Gertraude Häring, Frühe Ölmagnate, München 1987
Maria Widerknecht: Der Mythos des amerikanischen Selfmademan, Stuttgart, 2001

Bernd Graf: Die Hohlräume der Erde. Berlin 2019