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ahoiDes Uhrmachers Johannes Meiner Vierundzwanzig-Stunden-Kerze
oder
Über das Ringen um die rechte Zeit

 

Um elf Uhr sechzehn am 13. Mai 1997 wurde die Kerze auf seinem Nachtisch ausgeblasen. Er wollte es so. Sein Sohn, der ihn in seiner letzten Stunde begleitet hatte, erfüllte ihm den Wunsch. Er wollte, dass zumindest bei ihm ein Zeichen in die Zeit gesetzt wird: ein Zeichen wie der letzte Punkt eines großen Romans.

Das Verlöschen seiner Kerze, der letzten seiner Zeitkerzen, sollte der Punkt, der Moment sein, der sein Leben beendete.

Am 5. März 1908 wurde Johannes Meiner im schwäbischen Überlingen geboren. Sein Vater war Uhrmacher seine Mutter Christa arbeitete aushilfsweise in einer Wäscherei. Er war das dritte und letzte Kind, aber das erste männliche. Mit acht Jahren wurde er Halbwaise, sein Vater kehrte nicht mehr aus dem Krieg zurück. Es blieb ungeklärt, ob dessen Gasmaske undicht oder ob es ein Schuss ins Herz gewesen war, der den Tod auf dem Felde nach sich zog.
Sein Vater Helmut, Uhrmachermeister, war Anhänger der inzwischen verbotenen Reformzeit des Schweizer Uhrmachers Marcel Rödiger, der sich der Verfolgung im amerikanischen Exil hatte ent-ziehen können.

Johannes Meiner lernte wie sein Vater das Uhrmacherhandwerk und beschäftigte sich, angeleitet von den Erzählungen seiner Mutter über seinen Vater, bereits früh mit dem Wesen der Zeit, dem Sinn und der Bedeutung von Zeit.

Er ging davon aus, dass die Zeit etwas Leises und Fließendes sei, das nicht in einem Takt darzustellen sei, vergehe sie doch nicht taktmäßig, hart mit einer Unruh, sondern taktlos und weich, in Ruhe. So suchte er schon früh nach eine anderen Zeit als jener, die von einem Punkt zum nächsten springt.

Er arbeitete an einer linearen Zeit. Er wollte keine Neu-Zeit, keine Neueinteilung der Zeit wie viele seiner Kollegen, er wollte eine andere Zeitdarstellung, er forderte immer wieder, die Zeit anders zu denken, die Zeit nicht von der Uhr her zu begreifen, sondern aus sich selbst heraus neu zu denken.

Er propagierte, dass die Zeit nur ein menschliches Maß sei, das ans Leben gebunden sei, dass ohne menschliches Leben keine Zeit existiere, dass aber der Mensch als Wesen die Zeit brauche, ja in ihr lebe.

In vielen Kulturen symbolisiert das Licht das Leben, was auch richtig sei, denn das Licht ist für das Leben zuständig, ohne Licht kein Leben, die ewige Dunkelheit bedeute auch den Tod. Daher gehen diese Kulturen auch davon aus, dass in der Nacht die Zeit still steht und fürchteten, die Sonne ginge nicht mehr auf und die Dunkelheit, der Tod, hätten das Leben besiegt.

Von derlei Überlegungen ausgehend sagte er sich, dass allein das Licht unser Leben, das heißt die Zeit, darstellen könne.
Er strebte danach, eine Lichtzeit zu finden, eine Zeitdarstellung durch Licht.

Kerzen, die als Vertreiber der Dunkelheit seit altersher für Licht stehen, wären daher ideal für die Zeitdarstellung, denn bei ihrem Abbrennen wird Zeit sowohl in Licht umgewandelt als auch durch eine fließende, ruhige und wärmende Art dargestellt, die sie nicht mehr misst, da sie als solches nicht messbar ist.
1970 gab Johannes sein Uhrmacherhandwerk auf. Seine Frau, die den Laden mit einem Uhrenverkauf bislang geführt hatte, wollte nicht mehr hinter der Theke stehen, Arthritis machte ihr zu schaffen, die Aufträge gingen aus, denn die aufkommenden Digitaluhren benötigten keine Uhrmachermeister mehr. Sein Sohn lernte etwas anders, er wurde Volksschullehrer.

Nun, pensioniert, hatte Johannes Meiner Zeit, sich ganz seiner Zeit zu widmen.

In dem ebenfalls pensionierten, 5 Jahre älteren Kerzenzieher Hubertus Treuherz fand er einen ver-ständnisvollen Partner, um Kerzen zu entwickeln, die Zeit darstellen.
Der Uhrmacher Johannes Meiner und der Kerzenzieher Hubertus Treuherz galten bei Leuten, die sich mit der Zeit beschäftigten, bald als kompetente Zeitforscher mit einem nicht uninteressanten Ansatz.

1978 traten sie sehr erfolgreich auf dem Zeitkongress in Holländischen Groningen auf und stellten ihre Zeitkerzen vor.

Sie verfügten inzwischen über genau abbrennende Kerzen: Tageskerzen, Monatskerzen, Wochen-kerzen, sogar kleine Minutenkerzen und eine riesengroße Jahrekerze. Das Wachs war jeweils genau dosiert und mit einem neu entwickelten Docht versehen, der die Kerzen korrekt und kontrolliert abbrennen ließ. An den Kerzen waren Zahlen angebracht, sie nannten diese Zeitzahlen, an denen die entsprechende Zeitbenennung ablesbar war. Meist waren die Kerzen verziert, daher hübsch anzuschauen und dekorativ.

In katholischen Kreisen machte die Zeitkerzen eine Zeitlang Furore, bedeutete doch das Ewige Licht, die in ihren Kirchen immer brennende Ölflamme, auch das ewige Leben.
1985 starb überraschend Johannes‘ Frau Martha. Auch sein Kollege und Mitforscher Hubertus wurde zunehmen kauziger und vergesslicher, so dass er 1987 in einem Heim untergebracht werden musste. Bald darauf sollte er weder Johannes noch seine eigene Frau mehr erkennen und später auch die Zeit vergessen: Er befand sich in einem zeitlosen Zustand, zu dem kein andrer Mensch mehr Zutritt hatte.

In den kommenden Jahren wurde es immer ruhiger um Johannes Meiner, er besaß nur noch wenige Zeitkerzen, mit denen er sparsam umging.
Als er 89 jährig, inzwischen bettlägerig, immer schwächer wurde - schon das Atmen wurde zur Anstrengung -, bat er darum, seine verblieben Kerzen anzuzünden, er wollte nur noch beobachten, wie seine letzten Zeitkerzen brannten, wie das Licht, das Leben, langsam abnahm.

Als die Flamme gerade die Elf der letzten Kerze verzehrte, neigte sich sein Kopf zur Seite; er schloss seine Augen für immer. Wie versprochen löschte sein Sohn darauf die letzte Kerze: eine Tages- oder 24-Stunden-Kerze.

 

Literatur:
Kongressprotokolle, Gronigen 1978
M. Ketzing, Die Zeit im Wandel, München 1998
W. Müller-Funk (Hrg.), Zeit, Mythos, Phantom, Realität, Wien/NewYork 2000