logo museum der unerhörten dinge

 

greifswaldDie Kinder von Greifswald
oder
Vom Wal auf dem Marktplatz

Sehr lange machten sich Kunsthistoriker Gedanken über das von Sascha Löschner in Greifswald gefundene Fragment einer rätselhaften Glasmalerei, auf der zwei Kinder abgebildet sind. Weder der Künstler, noch das genaue Entstehungsdatum, sowie die Umstände, die zu dem Bilde führten, waren bis vor Kurzem bekannt. Die Abbildung wurde dem norddeutschen Ostsee-Raum zugeschrieben. Beim Fundort Greifswald lag das nahe. Die Kleidung, wie die Haartracht der Kinder wiesen auf Anfang / Mitte des 16. Jh. hin. Allgemeiner Konsens war, dass es sich um ein Fragment eines größeren Bildes handeln muss, und die Bildsprache liefert Hinweise auf einen aus dem süddeutschen Raum stammenden Glasmaler.

Die selbstbewusste Haltung des im Vordergrund stehenden Jungen, als ob er jemandem entgegen trete, eine Herausforderung annehme, die neugierigen, weit aufgerissenen Augen, die kein Detail des Gesehenen außer acht lassen, gaben immer wieder Anlass für verschiedenste Deutung, Spekulationen. Wie sich das Mädchen, es wird allgemein angenommen, dass es sich um seine Schwester handelt, sich hinter ihrem Bruder versteckt, er ihr rechtes Handgelenk schützend, als wolle er sie beruhigen, fest umschließt, wie sie sich im Schutz der breiten Schultern, ihn an der rechten Schulter, sich fast versteckend, fest anfasst, um, ebenfalls mit weit aufgerissenen Augen auf das zu schauen, was wir, die Betrachter des Bildes, nicht sehen. Dies außerhalb des Bildes verborgene Geheimnis eignete sich für wilde Spekulationen und Phantasien. Das gesamte Glasbild wurde fast ausschließlich über das nicht zu Sehende, über das Abwesende interpretiert.

Robert Rubens geht in seinem sehr interessanten,1998 erschienenen Buch, „Die Atmung in der Malerei“, ebenfalls von dem von uns nicht Gesehenen, vor uns Betrachtern Verborgenen, aus. Robert Rubens beruft sich bei seiner Abhandlung auf die von dem Maler Arthur B. Davies im 19. Jh. entwickelte Theorie, von der Entdeckung, dass seit der griechischen Kunst bis in das 1. Jh. alle Abbildungen des Menschen den Einatmenden darstellen und ab dem 2. Jh. bis heute nur Menschen während der Ausatmung abgebildet werden*. Robert Rubens kommt zu dem Schluss, dass der Meister der Glasmalerei, das geheime und von allen Künstlern eingehaltene Atmungstabu verletzte und die Kinder im Atemstillstand, mit angehaltenem Atem, abbildete. Er, Robert Rubens, vermutet, dass der unbekannte Künstler diese weitreichende Tabuverletzung, die sicher sofort auffiel, damit begründete, dass die Kinder von dem, was sie sahen, so beeindruckt waren, dass sie den Atem anhielten, dass es keine Tabuverletzung sei, sondern dem Realismus der Szene angemessen.

Auf das, worauf die Blicke der Kinder gerichtet sind, darauf konnte R. Rubens sich aber auch keinen Reim machen, nur, dass es etwas Gewaltiges sein musste. Ausgerechnet eine Nutzfischhistorikerin, gab den entscheidenden Hinweis auf des Rätsels Lösung. Sehr oft ist ein Geheimnis, das nicht Wissen, das Herumrätseln um ein Erahntes, schöner als die sachliche, nackte, einfache und meist enttäuschende Lösung eines die Phantasie anregenden Nichtwissens. In diesem Fall ist die Lösung, die Aufdeckung des Geheimnisses so verschlungen, dass das Wundern nicht in den reinen Fakten untergeht.

Bereits in der 1991 erschienen Schrift „Der Fischfang im ausgehenden Mittelalter“ schreibt Frau Dr. Gerda Schifferts über den Brauch, in der alten ehrwürdigen Hansestadt Greifswald, die in Wiek vor den Toren der Stadt,gestrandeten Wale in die Stadt zu schaffen und sie zur Belehrung und Unterhaltung auf dem Marktplatz auszustellen. Sie zitiert Predigten aus den Jahren 1423, 1535 und 1578, in denen an Hand von Walen die unbegreifbare Wunderkraft und Größe Gottes erklärt wird. Sie zitiert aus einer Anklage- und Beschwerdeschrift an den Herzog Wartislaw IX von 1461, in dem tadelnd und klagend berichtet wird, dass die christliche und jüdische Bevölkerung zusammen, anhand eines ausgestellten Wales auf dem Marktplatz zu Greifswald, die biblische Erzählung, in der Jona von einem Wal verschluckt und wieder ausgespien wird, in einer Art Mysterien-Spiel auf dem Marktplatz aufführten. In der christlichen wie in der jüdischen Bibel wird die Jona Geschichte deckungsgleich erzählt. In diesem Anklage- und Denunziationsschreiben wird um die Erlaubnis gebeten, ein antijüdisches Pogrom abzuhalten, um die jüdische Dreistigkeit zu bestrafen. In dem erhalten gebliebenen Antwortschreiben wird die Erlaubnis nicht gegeben und grundsätzlich die Ausstellung der Wale sehr gelobt. In der Marien-Kirche zu Greifswald, der dicken Marie, wie sie liebevoll von der Bevölkerung genannt wird, hängt seit dem Sommer 1545 ein Wandbild eines männlichen 7.30 Meter langen und 3.50 Meter hohen Schwertwales in Originalgröße. Dieser Wal strandete am 30. März 1545 bei Wiek vor Greifswald, wurde in die Stadt gebracht und von einem Stadtmaler 1:1 verewigt. Dieses Gemälde wurde immer wieder kopiert. Eine Kopie gelangte in die Hände des Naturforschers und Zeichners Conrad Gesner und inspirierte ihn, einen für ihn archetypischen Wal in sein Werk „Historia Animalium“ von 1555 mit zwei wasserspeienden Hörnern abzubilden.

Bei den 2015 ausgeführten Renovierungsarbeiten der Greifswalder Nikolaikirche, des Doms, fand man weitere noch unbekannte Abbildungen von Walen, die die Sitte, gestrandete Wale in die Stadt zu hieven und zur Schau zu stellen, bestätigen. Ob die Beendigung des Brauchs mit der ab dem15. Jh. beginnenden Versandung des Hafens zusammen hängt, oder ob den immer wieder dokumentierten Beschwerden der Bürgerschaft, besonders der Kaufmannsleute, die den widerlichen Fischverwesungsgestank abscheulich, gesundheits- und geschäftsschädigend empfanden, recht gegeben wurde, ist nicht bekannt. Die letzte Erwähnung einer Wal-Ausstellung in Greifswald stammt aus dem Jahre 1608.**
Im Frühjahr 2015 fiel der Kunsthistorikerin, Spezialistin für Fische in der Malerei, Anna Witsch, auf der Suche nach frühmittelalterlichen Heringsdarstellungen, das vor Jahren schon erschienene Buch „Der Fischfang im ausgehenden Mittelalter“ von Dr. Gerda Schifferts, in die Hände. Der „Beifang“, die Entdeckung, die sie in der Schrift machte, war ein Hinweis auf eine detaillierte Stadtbeschreibung Greifswalds des schwedischen Handlungsreisenden Elias Jakobson von 1745. Er berichtet von einem viel beachteten Glasfenster der Rathaus-Apotheke. In 52 mit Blei eingeschlossenen Glasbildern wird ein Wal auf dem Markt von Greifswald dargestellt.
Anna Witsch fuhr sofort nach Stocklohn und bekam in der Königlichen Bibliothek Einsicht in das Original der Stadtbeschreibung des Elias Jakobson. Er beschreibt, wie festlich gekleidete Bürgersleute staunend um einen großen Wal stehen. Der Bürgermeister mit Amtskette, Frau und seinen 8 Kindern betrachten inmitten der Ratsherrn sichtbar stolz den Wal. Viele Stadtbewohner stehen staunend um den Wal, Kinder spielen und werden ermahnt. Im mittleren Vordergrund, sehr raffiniert, dezent, aber das Bild prägend, genau im goldenen Schnitt, hat der Glasmaler einen bürgerlichen Jungen mit seiner Schwester abgebildet. Es soll sich, so steht es geschrieben, um die Kinder des Kaufmanns Hermann Grisze handeln. Die Kinder schauen angespannt auf den Wal und halten sind an den Händen. Das Fenster wird einem namentlich nicht bekannten Glasmaler aus Mittelwald, dem heutigen Österreich, zugeschrieben.
In der kunsthistorischen Fachzeitschrift „Der Fisch“ beschreibt Anna Witsch ihre Entdeckung, des Rätsels Lösung, dass die Kinder einen Wal sehen und betont, dass das ganze Rätsel noch nicht gelöst sei, denn das, was der Junge in seiner linken Hand hält, bleibt immer noch offen. Ist es eine Tasche, und wenn ja, was ist in der Tasche?

 

* Frederik Sjöberg schreibt in seinem Buch „Der Rosinenkönig“, über den Sammler und Forscher Gustav Eisen, dass der die Ein- und Ausatmungstheorie für die Begründung seines entdeckten Gralskelchs benützt, und dass der Begründer der Atmungstheorie der Maler und Einatmungs-Experte Artur B. Davies (1863 - 1928) ist. Aller größten Wahrscheinlichkeit nach hat er diese Theorie von der Tänzerin Edna Potter Owen, seinem Modell und Geliebten, „geklaut“. Owen wiederum war stark beeinflusst von der Tänzerin und Expertin für griechischen Tanz Isadora Duncan. Ohne
Atmung kein Tanz.
Wenn sie sich mehr in das Thema vertiefen möchten, empfehle ich das Kapitel „Legends of The Holy Grail“ in „Der Rosinenkönig“ von Frederik Sjöberg, Köln 2011.

** Es gibt in Greifswald Überlegungen, die Tradition der Walfischausstellungen wieder aufleben zu lassen und in einem modernen Mysterienspiel, sogenannte „Wahlfischspiele“ neu aufzuführen. Im Mittelpunkt dieser Spiele, mit Beteiligung der Bevölkerung, sollen zwei Kinder stehen.

Literatur:
http://www.monumente-online.de/08/02/sonderthema/10_Im_Blickpunkt_Walfischfaenger.php / Stand Frühjahr 2015
Gustav Eisen, „The Great Chalice of Antioch“, New York, 1923
Fredrik Sjöberg, „Der Rosinenkönig“, Köln, 2011
Robert Rubens, „Die Atmung in der Malerei“, München, 1998
Rupert Halig „Das Geheimnis außerhalb des Bildes“, Hamburg 2012
Gerda Schifferts, „Der Fischfang im ausgehenden Mittelalter“ Lübeck 1991
Anna Witsch „Der Wal: Des Rätsels Lösung“ in „Der Fisch“ S. 78 -122. Kiel 2015
Anna Witsch „Ein Detail einer der seltenen Glasbilder in der Ostsee-Region“ in „Mare Baltikum“ S. 125 – 187, Berlin 2016