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Rast an der Tankstelle


Der Regen hört auf, ich fahre weiter, der Regen fängt wieder an, ich suche weiteren Regenschutz.
Es ist seltsam, fast schon bizarr, mit dem Fahrrad mit dem ganzen Gepäck eine Tankstelle anzuradeln. Jeder Autofahrer erkennt mich sofort als Fernradfahrer, der auch auf ihren Schnellstraßen fährt, der den Autofahrern ihr Eigenes, ihr Zuhause streitig macht.
Es ist merkwürdig bei seinem natürlichen „Gegner“ Unterschlupf zu finden, bei den Antagonisten, Widersachern, Konkurrenten, Rivalen. Es ist ein schwieriges Verhältnis, das zwischen Autofahrern und Radfahrern herrscht. Es ist nicht Freundschaft, kein Miteinander, im besten Falle ein gegenseitiges ignorieren. Es ist ein Machtverhältnis.
Die Straßen sind von autoaffinen Ingenieuren für Autos erbaut. Fahrräder sind nicht eingeplant, unerwünscht, „verschwinde du mit deinem dämlichen Fahrrad“. Einige Autofahrer produzieren gefährliche Situationen, schneiden mich eng, lassen mir keinen Platz, fahren mit schnellem Tempo auf mich zu, um kurz vor mir abzubremsen oder das Lenkrad herumzureißen. All dies löst bei mir stechende Panik aus, dass ich fast vom Fahrrad springe. Angst. Der Autofahrer lacht laut aus seinem offenen Fahrerfenster. In solchen Momenten wird sehr viel Fahrradfahrerschweiß vergossen. Diesen Angstschweiß zu riechen scheint einigen Autofahrern Spaß zu machen. Gottlob ist dies nicht Alltag auf der Straße.
Nun sitze ich in einem der Tempelanlagen der Automobile, in dem ihr Betriebsstoff getankt wird. Ich schaue dem Ritual zu. Vorfahren, die richtige Zapfsäule aussuchen, aussteigen, Benzin in einen Tank füllen, zur Kasse gehen, anstehen, bezahlen und wieder weiterfahren.
Dies alles geschieht in einer bewundernswerten, vorbildhaften Unaufgeregtheit. Es scheinen keine Emotionen im Spiel zu sein, weder Freude des neuen frischen Saftes, noch Trauer des hohen Preises wegen. Es wird weder gefeilscht noch sich beschwert, es wird alles als gegeben hingenommen und akzeptiert. Eine Tankstelle erscheint mir als ein Ort hoch entwickelter Zivilisation, ein Ort, in dem sämtliche Klassenunterschiede nivelliert erscheinen, jeder bezahlt den gleichen Preis.
Dieser Ort, diese zentrale Abgabestelle des gesellschaftlichen Lebenssafts, der die Ordnung, das Wohlgefühl aufrecht erhält, wird von der Mehrheit der Bevölkerung regelmäßig angefahren, um ihre Mobilitätsfähigkeit nicht zu
unterbrechen. Alle Menschen begehren hier das Gleiche, den Saft, den Stoff, Es ist ein Ort gelebter Demokratie.
Man könnte über diese Orte die direkte Demokratie einführen. An jeder Tankstelle könnten Terminals stehen, an denen die Besucher ihre Meinungen zu gesellschaftlichen Fragen abgeben. Diese Daten könnten mit den Daten der zum Bezahlen verwendeten Kreditkarten verglichen werden, um so den sozialen Kontext des Meinungsabgebers einschätzen zu können.
Es würden tägliche, stündliche Stimmungsbilder entstehen, es könnte permanent ein aktuelles Meinungsbild der gesamten Bevölkerung zur Verfügung stehen und danach gehandelt werden.

Während ich diesen Gedanken einer Treibstoff-Demokratie nachhänge, schaue ich auf mein Handy, dieses ermittelt sofort meinen Standort, fragt nach, ob ich die Tankstelle bewerten wolle und informiert mich, dass in ca. 5 Minuten der Regen aufhören würde.

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