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Zwischen Ilmenau - Bad Rodach: Allzunah

Beim Frühstück eine Schar Bundeswehrangehörige, die, während sie ihren Kaffee trinken, sich über die Dekonstruktion von Brücken unterhalten, wie Brücken am besten, effektivsten und nachhaltigsten gesprengt werden. Wenn es Erbauer gibt, muss es auch Abbauer geben, die dem Erbauten seine Funktion entziehen, dekonstruieren. Gibt es bei der Bundeswehr einen Berufszweig des Dekonstrukteurs? Darf ich solchen militärischen Frühstücksgesprächen, dieser militärischen Fachsimpelei über Zerstörung überhaupt zuhören? Ich könnte ja ein Spion sein, der sich alles notiert? Wer weiß?
Ich zahle und hole mein „Bleiben sie gesund“ ab, an das ich mich noch immer nicht gewöhnt habe. Ist es eine Redewendung der Region? Ich hoffe ja. Ich hoffe auch, dass ich gesund bleibe. Warum sagt man mir jeden Tag in der Frühe „Bleiben Sie gesund“, soll ich den nächsten Arzt aufsuchen?

Ich breche auf. Mein Fahrrad, das allein in einem leeren Einzelzimmer des Hotels übernachtete, sattle ich auf und wir fahren mit dem Aufzug nach unten, auf die Straß.
In Ilmenau stehe ich noch kurz vor einer Tafel „Hier wohnte Goethe. In diesem Hause feierte Joh. Wolfg. v. Göthe seinen letzten Geburtstag am 28. August 1831“. Ich winke Goethe zu und verlasse die Stadt.
Der Radweg wird immer unwirklicher, wird zu einem Waldpfad für Wanderer. Das kann es ja nicht sein. In der Ilmenauer Touristeninformation erzählte man mir stolz, dass sie nun schon das dritte Mal infolge eine Auszeichnung für ihren Ilmradweg bekommen hätten, aber ein preiswürdiger Fahrradweg kann unmöglich über Wurzeln eines Waldweges verlaufen. Ich muss falsch sein.
Ich fahre auf die Autostraße und frage in einem Dorf eine Einheimische. „Ja, nach Allzunah . . .“ sie spricht Allzunah so aus, dass das All-zu-nahe nicht zu hören ist. „Ja, nach Allzunah da fahren sie nun weiter nach Sturzebach und in Sturzebach biegen sie beim Tennisplatz ab, aber vorher sind sie in Mäusebach, bevor Sie nach Sturzebach kommen, in Mäusebach fahren Sie immer gerade aus, beim Real dann links nach Sturzebach, beim Fußballplatz in Mäusebach können sie auch rechts fahren nach Sturzebach, da kommen sie dann über Mannesbach nach Sturzebach, aber in Mäusebach geradeaus kommen sie über Steinebach nach Sturzebach und können in Sturzebach direkt nach Allzunah, aber vorher fahren sie über Mäusebach und dann direkt über Sturzebach nach Allzuah, in Mäusebach müssen sie aber aufpassen, damit sie sich nicht verfahren, um nach Sturzebach zu kommen...“ Mir wird schwindelig in den Ohren, ich bedanke mich und fahre schnell weiter, um hinter der nächsten Biegung Google Maps zu befragen.

Es fängt zu regnen an. Ich verpacke meine Satteltaschen regensicher und fahre, um mich unter zustellen die offene Garage eines Hotels an. Ein Mann werkelt nebenan herum, kommt zu mir.
Wir sprechen über das Wetter und sofort kommt er auf ein Thema, das ihm wie es scheint besonders am Herzen liegt: Die Wölfe! Die Wölfe nähmen überhand. Die Wölfe schlagen ständig die Schafe und fressen sie dann. Die Schäfer hätten die Nase voll. Das sei schlecht, so würde es nicht mehr weiter gehen.
Die Wölfe würden das Rotwild links liegen lassen und nur immer Schafe fressen. Das würde doch überhaupt nicht gehen. Rotwild ist ja genügend da, aber Schafe, warum nur immer die Schafe? Die Schäfer beklagen sich sehr, sie würden nur noch Schafe für die Wölfe züchten. Meine Bemerkung, dass die Schäfer doch üppige Entschädigungen bekommen, wenn ein Wolf ein Schaf reißt, wurde bejaht, das stimme schon, aber welche Bürokratie das erfordere. Der Schäfer müsse Formulare ausfüllen. Dazu hätten die Schäfer keine Lust, sie hätten die Nase voll. Sein Schwager sei Schäfer. Er verstehe das nicht, warum unternimmt man da nichts, man könne doch heute alles machen, alles könne man machen, warum werden dann die Wölfe nicht genmanipuliert? Das wäre doch die einfachste Lösung, wenn man die Wölfe so genmanipulieren würde, dass die nur noch Rotwild schlagen und keine Schafe mehr. Das müsste doch zu machen sein, die Wölfe so genzumanipulieren, dass ihnen nur noch Rotwild schmeckt und keine Schafe mehr. Man könne doch, wo man heute ja alles kann, den Wölfen den Appetit auf Schafe weg genmanipulieren, dass Sie keine Lust auf Schafe hätten. Ihm würden zum Beispiel keine Kohlrabi schmecken, so könnte man das doch mit den Wölfen auch machen, dass denen die Schafe, wie ihm die Kohlrabi, nicht mehr schmecken. Die Schäfer würden das gut heißen, wenn die Wölfe nur noch Rotwild schlagen würden.
In dem Moment als ich die Jäger ins Spiel bringen will, was die wohl dazu sagen würden, fahrt ein Mittelklasseauto vor, eine Frau, seine Chefin gibt ihm aus dem offenen Autofenster heraus Anweisung und schickt ihn zum arbeiten. Er entschuldigt sich bei mir, zieht die Schultern hoch, er müsse wohl...
Die Chefin steigt aus ihrem Auto, kommt zu mir und fragt mich, ob ich mit rein kommen möchte, sie lädt mich zum Kaffee ein.
Meine Wetter-App sagt, dass in 10 Minuten der Regen aufhört. Tatsächlich, der Regen hält sich an die Prophezeiung. Ich verabschiede mich, bedanke mich für die herzliche Aufnahme und fahre weiter.

Es wird immer steiler, ich mühe mich den Berg hinauf, schalte auf den inneren Modus, nicht an das Ende zu denken sondern einfach stoisch, langsam vor mich hin zu treten, irgendwann wird es ein Ende haben, irgendwann werde ich oben sein.
Und tatsächlich, viel früher als ich dachte: das Ortsschild Allzunah. Eigentlich müsste man in diesem Ort Eheberatungs-Dienste anbieten, Beziehungs-Schulungen, Nähe-Kurse, Abstand-Workshops. Es ist einem ja immer wieder etwas All-zu-nah. Aber nichts von dem sehe ich, nur das Cafe, das man mir wegen des guten Kuchens empfahl, heute hat es leider geschlossen.

Nun geht der Weg durch Wälder, Nebel liegt in ihnen, es sieht wunderbar aus, es sieht alles nach Caspar David Friedrich aus. Die reale Natur idealisiert sich gerade selbst, orientiert sich an den Malern der deutschen Romantik, es wabert der Nebel in den Wipfelndes Waldes.
Über allen Gipfeln / Ist Ruh'“ und tatsächlich „Die Vögelein schweigen im Walde“. Aber das Schweigen der Vöglein hat vielleicht einen anderen Grund, den sich der Altmeister Goethe nicht vorstellen konnte. Es gibt sie immer weniger die Vöglein, weil es immer weniger Insekten gibt. Die Wiesen, die zwischen den Wäldern liegen, sehen verdammt grün, niedergemäht, überdüngt und blumenlos aus, nur fettes Grün. Ist das Giftgrün? Es kontrastiert sehr schön zu dem Dunkelgrün der Tannen, aber wo ist die Ernährungsgrundlage der Vögel geblieben, die Insekten? Weg gespritzt, weg gemäht, und wie heißt es so schön in dem Gedicht, da war der Altmeister unabsichtlich weitsichtig „Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur! Balde / Ruhest du auch.“

Um nicht selbst bald zu ruhen, muss ich nun aufpassen, die Straße geht immer mehr bergab, wird immer steiler, ich werde immer schneller, muss mich nun konzentrieren und darf keinen romantischen Gedanken mehr nachhängen.

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