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Über Feldsteine


Ein rustikales Dorf, die erste Siedlung, die ich heute durchfahre. Alles aus Feldsteinen. Feldsteinhäuser, Feldsteinkirche, Feldsteinschuppen, Feldsteinpflaster, alles wie aus dem Boden heraus entstanden. Bei diesen Feldsteindörfern habe ich immer das Gefühl, die Vorstellung, dass sie fest im Boden stecken, in der Erde verwurzelt sind, immer fällt mir das Lied: „Ein feste Burg ist unser Gott. . .“ ein. Dieses ur-protestantische Lied, von Martin Luther höchstselbst geschrieben, unverrückbar, nicht verhandelbar, so erlebe ich diese Gebäude, diese Dörfer, als ob sie unverrückbar in der Erde stecken. Martin Luther hat dieses Kirchenlied sicher angesichts von Feldsteinhäusern geschrieben, er lebte ja in der Gegend Deutschlands, in denen es diese Feldsteine aus Skandinavien, im wahrsten Sinne des Wortes, zu Haufen gibt.
Dass diese Feldsteine aus Skandinavien stammen, dass sie in der letzten Eiszeit, der Weichsel-Kaltzeit, die vor 10.000 Jahren zu Ende ging, dass nordische Gletscher diese ganzen Steine hierher schleppten, diese Vorstellung fasziniert mich immer wieder. 100.000 Jahre hatten die Gletscher Zeit, um halb Skandinavien abzutragen und hierher zu bringen, mehr ein Rollen als ein Schleppen wird das gewesen sein. Als sich die Gletscher zurückzogen, ließen sie die Steine hier. Für die Steine war es eine Einbahnstraße.
So gesehen ist das Dorf, durch das ich radle, ein schwedisches, norwegisches oder finnisches Dorf. Ich weiß nicht, ob es Besitzansprüche eines dieser Länder auf solch ein Dorf gibt, ich weiß nur, dass die Schweden in der Zeit des 30-jährigen Krieges sich hier, in diesem Gebiet, besonders stark engagiert haben, dass sogar der schwedische König Gustav II. Adolf bei einer Schlacht hier 1632 erschossen wurde. War das alles wegen der Steine, der Feldsteine gewesen? Wollten die Schweden ihre Steine wieder heim ins schwedische Königreich holen? Ging es gar nicht um Religion, sondern um Steine?
Es wäre doch eine prima Forderung der skandinavischen Rechtspopulisten, in der merkwürdigen Tradition des ideologischen Populismus, die sich um keine noch so abwegige Idee zu blöde ist, zu fordern, dort wo Feldsteine sind, sei auch ihr schützenswertes Heimatland. Sachsen-Anhalt sei schon seit 100.000 Jahren schwedisch, urschwedisches Kernland, schwedische Heimat, von den Deutschen bis heute unrechtmäßig besetzt.
Und überhaupt, wie ist es denn eigentlich mit den rechten deutschen Grund und Boden Verteidigern, wissen diese, dass sie hier in der Region auf fremden ausländischen Steinen stehen, und dass sie, wenn sie von deutschem Boden reden, schwedischen meinen? Vielleicht sind die Ideen der Deutsch-Nationalen oft so rätselhaft abgründig, weil sie, um aus echtem heimatlichem Boden zu schöpfen, schwindelig tief graben müssten.

Manchmal habe ich auch einen ganz anderen Verdacht, nämlich dass diese Feldsteindörfer gar nicht von Menschenhand erbaut wurden. Seit Jahrhunderten werden jährlich diese Feldsteine neu abgesammelt, ständig liegen neue Feldsteine wie aus dem Boden herausgewachsen auf den Äckern und Feldern, durch Verwitterung, Erosion und bodenmechanische Vorgänge. Der Boden ist ein sehr elastisches Ding, ständig in Bewegung. Milliarden und Abermilliarden Steine sind noch unter der Erde, um sich im Laufe der nächsten Jahrtausende langsam ans Licht zu arbeiten. Da kann ich mir vorstellen, dass die ganzen Feldsteindörfer tief in der Erde, weit unten im Erdreich zusammengesetzt werden und langsam nach oben gedrückt werden. Zuerst zeigt sich die Kirchturmspitze, dann die Dächer der Häuser, die Ställe, die Mauern, das ganze Gemäuer, und zum Schluss die gepflasterte Straße, die gerade mit ihrer Unebenheit meinem Hintern fürchterlich zusetzt.
Plötzlich steht ein wie von Zauberhand aus der Erde gewachsenes neues, bezugsfertiges Dorf in der Gegend, wo noch nie eines stand. Vielleicht ist das gesamte Dorf in schwedischer Ikea-Tradition ein komplettes Paket. Vielleicht fehlt an manchen Fenstern die Fensteröffnung. Ich spüre es unter den Füßen, es gibt noch hunderte, tausende Dörfer weit unten, unter der Erde. Sicher werden, während ich hier durch Sachsen-Anhalt radle, wieder Siedlungen, Dörfer nach einem raffinierten Plan unter mir, unter meinen Füßen, zusammengestellt. Nicht von einer übergeordneten Hand, sondern von den Ordnungskräften der Erd-Dynamik, den Schiebekräften der Erde. Vielleicht, so weit könnte ich mir das vorstellen, sind Erdwesen, schwedische Trolle, die Liam, Ella, Molly oder Ludvig heißen, die ersten Bewohner der Häuser. Die Probewohner.

So radle ich jetzt durch dieses zweimal verlassene Dorf, zuerst von Erd-Trollen und nun von Menschen, sehe eine aufgegebene LPG, in der früher Elche gehalten wurden, leere Häuser, ein Hund bellt, eine Katze lauert an einer Ecke, eine vergilbte Werbung einer Versicherung weist auf eine Existenzgründung hin, hoffentlich ist sie nicht gescheitert, sondern die Geschäfte werden woanders, z. B. in Halle, erfolgreich weitergeführt, ein alter, ehemals geliebter Trabant steht, dem Verfall überlassen, auf einem Hof.
Das Dorf hört auf und wird von einem romantischen Wald abgelöst. Auf den Feldern liegt Frühtau und Bodennebel. Ein Bild mit allen typischen romantischen Attributen ausgestattetet, eine nebelige Kasper David Friedrich Stimmung. Der Wald öffnet sich plötzlich wie bei einem gestalteten Landschaftspark, ich trau meinen Augen nicht; in der geöffneten Zentralachse nahe dem Horizont, riesige Kühltürme, aus denen große weiße Wolken in den Himmel steigen. Ich zucke zusammen, gibt es hier ein Atomkraftwerk? Spüre ich die Strahlen? Werde ich kontaminiert? Was geht hier vor?
Diese Kühltürme sind zum Symbol für die Atomkraft geworden, das einzig sichtbare, das Bild der Atomkraft, sodass der erste Reflex, wenn ich Kühltürme sehe, Gedanken an unsichtbare Strahlen, Tod und Verderben sind.
Die Kühltürme haben die Schlote, die Fabrikschlote als Symbol der Industrie abgelöst. Der Schlot als Symbol der Industrialisierung, des Fortschritts. Solang Rauch aus der Fabrik kommt, ist die Welt noch in Ordnung, so lange boomt die Wirtschaft, so lange gibt es Arbeit, immer mehr und Besseres zu kaufen. Es geht voran.


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