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Brachwitzer- Gierseilfähre

Die Stadt Halle kündigt sich an, Menschen auf Fahrrädern nehmen zu. Ausflugsradler. Bei Brachwitz soll ich der Karte, der Ausschilderung nach, die Saale mit einer Fähre überqueren. Als ich ankomme, erwartet mich ein Stau von Radlern.
Ich bin in Fähren vernarrt. Es ist immer eine Verlangsamung, ein unaufschiebbarer Stopp. Ich kann die Fähre nicht schneller, nicht langsamer machen. Später, übergesetzt, bin ich woanders, am anderen Ufer, dort, wo nur ein Fährmann oder eine Fährfrau mich hinbringen konnte und jedes Mal die neugierige Frage: Was erwartet mich?
Bei jeder Fähre denke ich an den Roman „Die Stadt hinter dem Strom“ von Hermann Kasack. Ich las ihn als Jugendlicher. Es gibt Bücher, die ich nicht vergessen kann, die immer wieder auftauchen, die einen solch nachhaltigen Eindruck auf mich machten, dass sie zur Lebensbegleitung wurden.
Die Brachwitzer-Fähre ist eine klassische Gierseilfähre, eine „Schwimmende Brücke“. Sie hängt an langen Seilen und benützt die Strömung des Flusses, um das andere Ufer zu erreichen. Das andere Ufer mit der Kraft der Strömung erreichen, ohne selbst aktiv zu werden. Ich mag diese Fähren, die den Fluss, die Strömung überlisten, besonders gern. Sie erinnern mich an asiatische Kampfsportarten, die die Kraft des Gegners ausnützen, um ihn zu überwinden.

Es war der Holländer Hendrick Heuck (*1600 / † 1677) der Mitte des 17. Jahrhunderts diese Fähre entwickelte. Ich möchte die Leistungen des Hendrick Heuck nicht schmälern, aber wenn ich wie gerade an den asiatischen Kampfsport denke, könnte es sein, dass Hendrick Heuck, 1645 in Amsterdam in einer verrauchten, verruchten Hafenkneipe zufällig auf den Matrosen Jan van Hillberg traf. Jan van Hillberg, um 1605 geboren und 1655 gestorben, oh nein, er ist mir zu sympathisch, ich gebe ihm noch 13 Jahre, also 1668 in Nijmegen gestorben. Jan van Hillberg war als Matrose bei drei Südost-Expeditionen nach Niederländisch-Indien, heute Indonesien, dabei. Er war als Kind sehr angetan von den Erzählungen über die Verbreitung des Wort Gottes in den neuen Ländern Niederlandes, die fromme Prediger von der Kanzel erzählten. Er hörte genau hin und merkte sich jedes Wort. Mit 17 Jahren, 1622, heuerte er das erste Mal auf einem Schiff an, das in die neuen Länder fuhr,
1642 kam van Hillberg von seiner dritten Fahrt nach Niederländisch-Indien zurück und schwor, nie wieder auf einem Überseeschiff anzuheuern. Er litt unter seinen Erlebnissen und machte es sich zur Aufgabe, von den Gräueltaten, die im Namen des Christentums begangen werden, zu berichten. Er suchte verzweifelt Pastoren, die ihm zuhörten, in der Hoffnung, dass diese von den bestialischen Grausamkeiten, die dort in Niederländisch-Indien an Menschen begangen werden, predigen, um dem Geschehen Einhalt zu bieten. Er wurde aber bei seinen Bitten regelmäßig ausgelacht, niemand glaubte ihm, weder die geistlichen Herren noch die Laien, denen er die unglaublich grauenhaften Geschichten erzählte.
In einer namenlosen Hafenkneipe in Amsterdam lernte Hendrick Heuck aus Nijmegen, den Seemann Jan van Hillberg kennen und hörte ihm geduldig zu. Dieser erzählte von Abenteuern aus den fernen Ländern, von Flüssen,auf denen er Boote sah, die ohne eigene Kraft hin und her fuhren. Er erzählte von kämpfenden Mönchen, die völlig gewaltlos die Kraft ihres Gegners so geschickt ausnützen, dass der Gegner an sich selbst scheitert. So ähnlich müsse man sich die Boote vorstellen. Diese Boote hingen an langen Seilen und würden sich wie Hofhunde an der Leine hin und her bewegen, von einem Ufer zum anderen. Er erzählte auch, dass der Kapitän Pieter de Vries ohne Notwenigkeit diese Boote regelmäßig zerstören ließ und die Fährmänner tötete. Hendrick Heuck ließ sich die Boote genau beschreiben und hörte sich immer wieder all seine Geschichten an. Zu Hause in Nijmegen entwarf er ein Boot nach der Erzählung von Jan van Hillberg und ließ es von der Strömungskraft des Flusses Waal von dem einen Ufer zu dem anderen Ufer hin und her ziehen.
1657 bei der Einweihung dieser völlig neuartigen Fähre stellte Hendrick Heuck den Seemann Jan van Hillberg als Fähren-Kapitän vor. Jan van Hillberg blieb bis zu seinen Tod, 1668, Fährmannskapitän der ersten Gierseilfähre der westlichen Welt. Diese Fährenkonstruktion eroberte sämtliche Flüsse Europas, auch die Saale.

Die Gierseilfähre Brachwitz erreicht mit mir und meinem Fahrrad das andere Ufer der Saale. Um die Fähre zu verlassen, reihe ich mich hinter einer fröhlichen, laut lachenden, radelnden Frauengruppe von ca. 15 Damen ein. Ich versuche, so schnell wie möglich die Gruppe zu überholen, der Fahrradweg verengt sich und wird zu einem Pfad, der sich zwischen Schrebergärten hinzieht. Ein einfaches Überholen der Gruppe ist nun unmöglich. Ich will auf keinen Fall hinter dem ausgelassenen, beschwingten, lauten Gekichere und Gegackere der sich ständig neue lustige Einfälle erzählenden Gruppe hinterher fahren. Ich beneide die Frauen für die Möglichkeit dieser Ausgelassenheit, die in dieser Form nur in Gruppen funktioniert. Nun versuchte ich, einzeln die Frauen zu überholen. Dies wird mit lärmigem fröhlichen Johlen, Grölen und Sprüchen kommentiert. „Achtung, da kommt Mausi“, „Den nehmen wir mit“, „Nein, den nehme ich für heute Abend mit“, „Achtung, da kommt das Betthufperl“ . . .
Es ist nicht einfach, aber ich schaffe es, langsam aber stetig alle peu à peu zu überholen. Mit größer werdendem Abstand ist die schöne, lustige Fröhlichkeit der Gruppe immer weniger zu hören.
Mit letzter Kraft trete ich in die Pedale, um ja nicht zurückzufallen, um dann von der Gruppe überholt zu werden. Diese Sprüche möchte ich nicht hören.


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