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Bushaltestelle

Ich fahre, um mich unterzustellen, eine überdachte Bushaltestelle an. Bei modernen Bushaltestellen sind die Sitzgelegenheiten so eingerichtet, so konstruiert, dass die Sitzbank durch Separatoren unterteilt ist. Sie sind nur für einen Normhintern, einen Normarsch vorgesehen, abweichende XXL-Größen sind für diese Sitze nicht vorgesehen, da drückt der Separatorenbügel. Diese Abgrenzungsbügel machen aus der durchgehenden Bank einen ordentlichen Mehrsitzer. Würde ich mich vor Müdigkeit hinlegen, würde sich der Bügel unweigerlich schmerzhaft in meine Rippen drücken. Auf den Bus warten soll, darf keine gemütliche Angelegenheit sein, man hat aufrecht sitzend und erwartungsvoll auf den Bus zu warten.
Wo ich gerade diesen Sitzzwangbügel sehe, fällt mir ein, wie ich vor vielen, vielen Jahren mit dem Nachtzug von Amsterdam nach Berlin fuhr. Meine damalige Freundin Ruth und ich, wir legten uns in dem ansonsten leeren Achterabteil zum Schlafen hin. Als wir auf der damaligen Transitstrecke durch die DDR fuhren, interessierte sich der Schaffner nur geringfügig für unsere Fahrkarten, sein Hauptinteresse galt unserem Fehlverhalten. Er ermahnte uns streng, einschüchternd, abschätzend, dass es sich hier um einen Sitzwaggon handele und wir hier nicht berechtigt seien, uns hinzulegen. Wir sollten sofort eine aufrechte Position einnehmen! Unser verschlafener Einwand, es sei ja sonst niemand in dem Abteil, wurde mit dem Hinweis beantwortet, dies hier sei ein Sitzwagen, kein Liegewagen, in einem Sitzwaggon habe man zu sitzen, es herrsche Sitzzwang. Sein Hinweis auf einen vorherrschenden Sitzzwang ließ keinen Widerspruch zu. Der Befehl, in einem leeren Abteil aufrecht zu sitzen, sowie das dazugehörige Wort „Sitzzwang“ prägten sich unauslöschlich in mein Gedächtnis.
Die Nötigungsbügel an dieser Bushaltestelle, die eingerichteten Sitzzwänge auf der Bank sind artverwandt dem „Zugsitzzwang“. Ich bin überzeugt, es kann eigentlich nicht anders sein, dass ein Verwandter des damaligen Schaffners bei der Entwicklung dieser Bushaltestellensitzzwangbügel mitgewirkt hat. Sein Opa Gustav erzählte ihm immer von den Vorschriften der Reichsbahn, und dass ein Sitzabteil ein Sitzabteil sei und ein Liegewagen ein Liegewagen.

Der Urvater aller modernen Haltungzwangseinrichtungen Daniel Gottlob Moritz Schreber (1806-1881) aus Leipzig, Arzt, Hochschullehrer und einflussreicher Pädagoge, hätte seine Freude an der epidemischen Ausbreitung seiner Idee. Seine Überzeugung war, Menschen durch Stützapparate zu bessern, aufzurichten, sie zu einer strammen Haltung zu bewegen. Menschen mit labilem Charakter sollten durch Gurtungen und Festschnallgeräte in gesunde, rechtschaffene Positionen gezwungen werden. Er entwickelte Dutzende solcher Apparaturen und verkaufte sie mit der nötigen ideologischen Begründung. Besonders Kinder hatten es ihm angetan. Sie sollten, wie Bäume, frühzeitig, - „was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ -, in die richtige Haltung gezogen, gebunden, gezwungen werden. Für die Kindererziehung konstruierte er viele ganz spezielle mechanische Vorrichtungen.
Die Körper von Kindern sollten, einschließlich des Kopfes, mit Ledergurten aufrecht an Stühlen festgebunden werden. Ein Kind hat sich voll und ganz unterzuordnen, der eigene Wille, der natürliche Bewegungsdrang muss gebrochen werden, damit das Kind ein fertiges, willfähriges Wesen in der Gesellschaft werden kann.
Kinder seien im Bett festzubinden, festzuschnallen, damit sie lernen auf dem Rücken zu schlafen. Seine besondere Aufmerksamkeit galt Apparaturen, die dem Kind das Berühren seines Geschlechts unmöglich machten. Er entwickelte Vorrichtungen, die die Arme fixierten, die keine Bewegung zuließen. Bei einem Kind sollte mit aller Härte und Gewalt eine Masturbation verhindert werden, da diese nur zu Aufmüpfigkeit, zum Widerspruch und zu abstoßendem Schwachsinn führe.
Für den Herrn Schreber war nur in einem aufrechten Körper ein aufrechter Geist. Er ging davon aus, dass ein Kind von Geburt an schlecht und böse sei, daher müsse bereits ein Säugling streng angefasst werden. Um einen Säugling zu disziplinieren, seien Prügel dringend notwendig und unerlässlich "Eine solche Prozedur ist nur ein- oder höchstens zweimal nötig, und man ist Herr des Kindes für immer".

Katharina Rutschky prägte für diese Art von Pädagogik den Begriff der „Schwarzen Pädagogik“, den Alice Miller später übernahm. Schreber gilt als einer der Hauptvertreter der „Schwarzen Pädagogik“.
Er, der Überzeugungstäter Schreber erzog seine fünf Kinder mit seinen Gerätschaften und mit dem von ihm propagierten Liebesentzug. Drei Kinder wurden psychisch schwer krank. Ein Sohn beging Selbstmord, eine Tochter und ein Sohn erkrankten an schweren Psychosen. Der Sohn Daniel Paul Schreber war kurzfristig Senatspräsident am Oberlandesgericht in Dresden, bevor er in der Nervenanstalt zu Leipzig den Rest seines Lebens verbrachte. Dort verfasste er während heftiger psychotischer Schübe autobiografische Beobachtungen. Seine Schrift: „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ sind bis heute ein beeindruckendes Dokument aus dem Innenleben eines psychotischen Menschen und beschäftigten Denker wie z.B. Sigmund Freud, Elias Canetti, William G. Niederland.

Jetzt sitze ich auf einer von Schreber inspirierten, vom Enkel eines Schaffners entwickelten Sitzzwangeinrichtung. Vielleicht heißen die Sitze hier Schreber-Bänke, wer weiß?
Diese Bushaltestellen, in der Fachsprache „Überdachungssystem mit Bogendach aus Stahlwellblech“, sind so konzeptioniert, dass selbst der Regen diszipliniert kerzengerade von oben fallen muss, damit einem Unterstehenden Schutz geboten wird.
Der Wind, der gerade die Regentropfen verwirbelt, weht den Regen unter das kleine Dach, sodass der Schutzsuchende, wie ich gerade, unweigerlich nass wird.
Ich vermute, dass bei der Funktionstüchtigkeitsprüfung dieser Haltestellen, als sie von den Auftraggebern abgenommen wurden, tüchtige Hilfskräfte als Regenmacher auf hohen Leitern standen und mit Gießkannen den Regen simulierten. Die unter dem Prototyp stehenden Prüfungsinspektoren wurden nicht nass, sie wurden im Trockenen stehen gelassen. In der freien Wildbahn wie hier versagt das Bonsai-Dach.


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