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Alsleben

Ich radle in Alsleben ein. Eine reizende deutsche Stadt. Ich bin sofort verzaubert . So kenne ich deutsche Städte aus Bilderbüchern meiner Kindheit. Eine Musterstadt: „Die deutsche Stadt“. Eine Leitstadt für die Bebilderung Deutschlands. In den kleinen, gewundenen Gassen leben leibhaftig die Märchen, durch diesen gotischen Torbogen stolzierte der gestiefelte Kater, hier den Berg hoch ging der Junge, um das Fürchten, das Gruseln zu lernen.
Hier in diesen alten ehrwürdigen Häusern lebt das sich selbst vorstellende, sich phantasierende Deutschland. Auf diesem uralten Pflaster durch die harten groben Pflastersteine spüre ich Deutschland bei jeder Umdrehung der Räder an meinem Hintern. Es ist kein Samtkissen dies Deutschland. Aua, es ist hart, es tut weh, es reicht, ich muss gleich anhalten.
Ich radle auf den Rathausplatz und just in jenem Moment sehe ich einen letzten Rockzipfel um die Ecke verschwinden, es ist der Rockzipfel des Lehrer Lämpel mit seiner Pfeife und hier oben, ach schau, Frau Holle hat gerade, als ich einen Imbiss ansteuere, ihr Balkonfenster geschlossen. Peter Schlemihl schleicht des Nachts, wenn es keinen Schatten gibt, hier um die Häuser. Ich sitze gegenüber des Rathauses vor einem Imbiss mit einer Apfelsaftschorle unter einem Sonnenschirm. Meine müden Beine freuen sich, nicht mehr die Pedale bewegen zu müssen. Es ist 11 Uhr.

Das Verzauberte, das, was mir fast den Atem nimmt ist, dass es hier keine Menschen gibt, diese Leere. Keine Touristengruppen, die einem hochgehaltenen Fähnchen nachlaufen, keine Damen und Herren in historischen Phantasiekostümen theatralisch Märchen vortragend, wenn es schlimm wird deklamieren sie sie. Auch der obligatorische Nachtwächter mit Helm, Laterne und Hellebarde, der zum nächtlichen Event ins Horn bläst, fehlt. Es ist menschenleer, huch, bin ich der Einzige hier?
Gegenüber von mir steht auf einem Haus „Bäckerei“, an dem daneben „Fleischerei“, in der Ferne lese ich „Kolonial-Waren“, „Schneiderei“, „Tabak / Zeitungen“ „Gasthaus zum Schwan“. Das Merkwürdige ist, zu den aufgemalten Worten fehlen die dazugehörigen Geschäfte. Vielleicht ist das Rathaus auch kein Rathaus. Ist hier alles Dekoration, auch die Aufschrift „Feuerwehr“, „Arzt“, „Polizei“? Vielleicht sitze ich mitten in einer Filmkulisse, in einer Drehpause, einer Neuverfilmung von „Zwerg Nase“. Ein kleiner Schaufelbagger fährt nun schon das dritte Mal an mir vorbei, hat die DVD in der ich sitze einen Haarriss? Sind die Aufschriften auf den Häusern Zitate, Erinnerungen, Hinweise auf eine alte vergangene Zeit, als es noch Fachgeschäfte mit Bedienung, die immer auf ein Schwätzchen bereit war, gab?
Was ist hier los?
Ist Deutschland im Innersten ausgestorben? Wohnt in den Kernen von solchen kleineren Städten niemand mehr? Warum sind viele Innenstädte entvölkert? Wollen alle nur am Rand der Städte wohnen, mit den Rasenmähern hinter zwei Meter hohen Thujahecken versteckt? Mit dem Auto fährt man zu einem Kaufpark, in dem es alles vom Essen bis zur Kleidung gibt, von der Versicherung bis zum Kredit. Aber selbst diese Einkaufsparadiese sind aktuelle Auslaufmodelle. Der Lieferservice eines Internetportals befriedigt alle Bedürfnisse, bringt jedes Gewünschte ins Haus, sodass die eigenen vier Wände nicht mehr verlassen werden müssen. Ich denke an einen Zoo, in dem den Tieren das Essen alltäglich pünktlich in ihre Käfige gebracht wird.

Es ist randständig geworden in vielen deutschen Kleinstädten.
Keine innerstädtische Gemütlichkeit mehr, keine Fröhlichkeit, keine Gaststätten, keine Spelunken mehr, nur ab und an ein langsam vorbei fahrendes Auto, als ob es sich verfahren hätte in dieser entleerten Stadt.
Der Einzige, der mit diesem Elend ein Erbarmen hat, ist der „Istanbul Express“ vor dem ich sitze. Ein Dönerimbiss hält die deutsche Gastfreundschaft aufrecht.

Während ich hier vor diesem Imbiss sitze und diese wunderschöne leere historische Stadt auf mich einwirkt, steigen in mir sich selbstständig machende Gedanken auf.
Es ist ja kein Zustand dieser Leerstand der Stadt, diese unbewohnten, unbeheimateten Wohnungen, man könnte doch, denke ich mir, denkt Es mir, ja warum denn nicht, man müsste nur den Mut haben, hier überall Geflüchtete unterzubringen.
Nach dem 2. Weltkrieg baute man in deutschen Städten große neue Siedlungen für die Fremden, für die Flüchtlinge aus dem Osten und heute hat man leere ausgestorbene Innenstädte. Es wäre doch möglich, in diesen leeren Städten die neuen Flüchtlinge aus Syrien, aus Mosul, Kirkuk, Afghanistan oder sonst woher unterzubringen. Platz ist ja genügend da. Es erübrigte sich, neue Siedlungen mit neuer Infrastruktur aufzubauen. Viele der heutigen Geflüchteten kennen das Stadtleben, kommen oft aus historischen Altstädten, aus Städten, die zum Weltkultur-Erbe gehören, Jahrhunderte alte Handelsorte. In diesen Städten wurde schon gehandelt, als hier in Alsleben noch kein Haus stand. Die Geflüchteten kennen die hiesigen kleinen Gassen aus ihrer Heimat. Wie schnell wäre es möglich, diese Stadt hier mit Leben zu füllen und sie vor dem kulturellen Austrocknen, vor dem Untergang zu bewahren.
Man muss nur ein wenig praktisch denken. Wenn den neuen Bürgern dieser Städte eine Eigentumsoption angeboten würde, könnten sie schnell dies hier als ihre neue Heimat annehmen. So eine Basarstimmung mit Kräutern und Handelsgütern des täglichen Bedarfs in mittelalterlichen Gassen, das wäre ein Anziehungspunkt, eine Touristenattraktion, ein überregionales Event, das wäre innovativ und würde jährlich tausende Busse anlocken. Das könnte die abgehängten Städte und Landstriche Deutschlands in blühende Landschaften, in Blumenhandlungen, verwandeln.
Ich öffne immer noch nicht meine Augen, denke an die abendländische Kultur, an eine Mehrfachnutzung von den alten romanischen Kirchen von verschiedensten Konfessionen. Die Doppelnutzung von Sakralbauten, diesmal von Christen und Muslimen, könnte man auch in diesen Städten einführen.

Ein Auto hält laut vor mir. Ich erwache aus meinem Traum. Ein junger Mann steigt aus, geht an mir vorbei, betritt den Imbiss und sagt „Du Ali, alles gut. Ich Döner haben wollen, Döner gut scharf. Wie du immer machen, guten Döner.“ Ich höre nur noch wie der türkische Besitzer antwortet „In 10 Minuten ist es soweit. Setzen Sie sich derweilen. Herr Baranski darf ich Ihnen einen Tee anbieten?
Ich packe meine Sachen, werfe keinen Blick mehr zurück in diese schöne, leere Stadt und radle weiter am Ufer der Saale entlang in Richtung Halle.

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