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Berg Bunker / Lios im Versteck

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Fotografien von 1986 / Erzählung 2023
Beides von Roland Albrecht

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Als ich 1986 diese Bunkeranlagen in den Alpen des Piemont sah und fotografierte, drängten sich mir zwei Gedanken auf.
Zuallererst: Welch Arbeit und Kreativität sind notwendig, hier weit über der Baumgrenze solche Bauwerke zu schaffen, mit dem einzigen Ziel, gewaltig, effizient und unsichtbar zu sein. Ist es denn nicht das Bedürfnis jedes Kreativen seine Leistung zu zeigen, stolz zu sein, sie darzustellen? Ist hier das Ziel der bewundernswerten Kreativität nicht gesehen zu werden? Welch Merkwürdigkeit!
Dann sah ich immer einen alten bärtigen Menschen, der aus einem der Bunker herausschaut, dort wohnt. Ich dachte mir, dass es doch möglich sei, dass das Verstecken bei einem Menschen zum Lebensinhalt wird. In dieser Höhe und Einsamkeit wären die idealen Bedingungen gegeben. Der Text von Friedrich Dürrenmatt „Der Winterkrieg in Tibet“, inspirierte mich sicher zu dieser Fantasie.

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Lios im Versteck

Niemand wusste Genaueres von ihm, der tot aufgefunden wurde. Plötzlich, wie auch nicht anders zu erwarten, meinten einige, die, die immer alles wissen, besser wissen, im Nachhinein schon immer gewusst haben, ihm, dem Toten seit Jahren, andere glaubten seit Jahrzehnten, in einem der Dörfer beidseitig des hohen Passes begegnet zu sein. Genaueres über ihn wussten sie aber auch nicht.

Die meisten der Talbewohner, falls sie ihn je gesehen hatten, nahmen ihn nicht wahr, sahen höchstens in ihm einen der vielen fremden durchreisenden Touristen oder einen der skurrilen, verschrobenen, wortkargen Hirten, die ab und an ins Tal kamen, um etwas zu erledigen. Hirten, die ansonsten den kurzen Sommer lang einsam hunderte Schafe beaufsichtigen, betreuen und von den Bauern mit dem Notwendigsten ab und an versorgt werden. Viele solcher Hirten gibt es nicht mehr. Jedes Jahr werden es weniger, die die wenigen Sommermonate des Jahres mit ihren klugen, umsichtigen Hunden einsam große Herden mit Schafen oder Kühen bewachen, sie regelmäßig abzählen, mit ihnen die Weideplätze wechseln, die Tiere bei Verletzungen verarzten. Sehr wenige Hirten gibt es heute nur mehr mit diesen speziellen Fähigkeiten und dem Wissen, die mit sich selbst in diesen einsamen Höhen zurechtkommen. Die Arbeitszeit umfasst den Tag von Sonnenaufgang bis zu seinem Untergang, von Dämmerung zu Dämmerung, sieben Tage die Woche.
Die Zeiten ändern sich schnell und radikal. Die Schafzucht lohnt sich nicht mehr da oben. Die Kulturlandschaft der Bergweiden, die Matten, die Almen in diesen Höhen müssen aber bewirtschaftet werden, weil sonst eine Verkrautung droht und dadurch die Dörfer der Täler durch Bergrutsche und Lawinen bedroht sind. Die Bauern bekommen nun von der Landschaftsschutzbehörde Zuschüsse für die sommerliche Beweidung der Bergwiesen, des Bestoßens der Almen. Dort ist die Vegetationsperiode kurz.
Dass da oben ganzjährig tatsächlich einer wohnen würde, ja könnte, taten alle als Unsinn, als, „das ist nicht möglich“, ab. Es sei unwirtliches Niemandsland, das in den kurzen Sommern mit Schafen bestückt wird, wo Wanderwege sich kreuzen, ein paar Hütten für Jäger und Hirten versteckt herumstehen und auf dem Parkplatz der Passhöhe weißgesichtige Durchreisende mit schwachem Kreislauf von der Aussicht schwärmen und vom Höhenkoller reden.

Auf der Passhöhe bieten sommers tagsüber bei schönem Wetter regelmäßig ein paar Händler Andenken feil: Plüsch-Murmeltiere zum Kuscheln, Schneekugeln mit Gämsen, Edelweißattrappen an Anstecknadeln, Puppen die Rülps-Töne von sich geben, alles in Fernost gefertigt. Ab und an auch Postkarten, aber wer kauft heute noch Postkarten? Für die Kleinen, die Kinder, die ohne sich zu übergeben, die vielen Kurven, die Serpentinen des Passes, durchgehalten haben, Süßigkeiten in allen Farben und Konsistenz. Für die Erwachsenen urige, authentisch geschnitzte Bergmotive, Gämsen, verwachsene Gnome, die Bergzwerge oder -zwerginnen darstellen sollen. Manchmal sind sogar echte Hirten zugegen, die bewundert, bestaunt werden können. Bei diesen, so sieht es aus, ist Abstand geraten. Man weiß ja bei solchen Gestalten nie. Längere Zeit als unbedingt notwendig will niemand in der schroffen Unwirtlichkeit der Berge bleiben. Und wohnen? Wer sollte da wohnen? Keine alte Sau- nicht mal.

Vor langer Zeit, als die Passstraße noch nicht so ausgebaut, gesichert und geteert war, als nach jedem Unwetter die Straße von Geröll geräumt, ausgebessert, neu gesichert werden musste, gab es auf beiden Seiten des Passes jeweils ein Haus für die Straßensicherung. Die Straßen wurden besser, die Häuser überflüssig und verfielen, wie das ehemalige alte Hospiz, das auf der Passhöhe zur Rettung von im Schnee Verschütteten, Tagedieben, Geflüchteten jeglicher Couleur stand. Die ehemaligen Zollstationen beider Staaten standen vor dem Schengener Abkommen beidseitig der Grenze, weit unterhalb der unwirtlichen Passhöhe mit ihren alten verlassenen Bunkeranlagen eines vergessenen Krieges. Niemand kümmert sich um die Anlagen, um das alte Gerümpel, selbst für die Wiederverwertung als Alteisen ist es ungeeignet, es ist zu aufwendig, zu teuer, das Zeug dort oben zu bergen.

Tourismusentwickler aus fernen Städten hörten von dem Gerücht eines Menschen in großer Höhe und redeten plötzlich von einem Alpen-Yeti, manche von einem Ötzi-Nachkommen, der da oben gesichtet wurde und wollten daraus eine fetzige Vermarktungsstory machen. Immer wieder lancierten sie erfundene Geschichten in den einschlägigen Medien, platzierten pseudowissenschaftliche Abhandlungen. All ihre Bemühungen um größere Popularität ihrer Story um den Mann in den Bergen, um damit Touristenströme auf den Pass, wie in die angrenzenden Täler umzulenken, liefen ins Leere. Die Einheimischen, die diese Geschichten mittragen sollten, quittierten solche Erfindungen mit Nichtbeachtung. Diese „action story“ über ihre Heimat wurde kommentarlos zur Kenntnis genommen. Eine große journalistische Vermarktung zog bei ihnen nicht. Die meisten Bewohner der beidseitigen Täler wollten keinem Yeti-Ötzi-Tourismus ausgeliefert sein. Es reichte ihnen schon der Tourismus, der da war, wie auch die seit Jahrhunderten überlieferten Mythen der Berge, da sollten keine Fremden kommen und ihnen etwas in städtischen Büros Ausgedachtes erzählen. Sie würden es schon selber wissen, wenn es so wäre.

Es gibt schon den Migö, den Wilden Mann, den Schrat, der da oben haust. Schon die Eltern, die Großeltern und deren Eltern und auch deren Großeltern erzählten von ihnen, von den gefährlichen, wilden, zotteligen Männern, von den lüsternen, männerverschlingende Frauen. Sie waren schon immer in den Bergen, bedrohten die Hirten, das Vieh, den Berggeher, wie den Jäger. Über diese Gefahr, die von den Wilden da oben ausgeht, wird auch gern den Touristen, oft in schaurigen Farben schrullig erzählt. Der dadurch entstehende Angst-Respekt hält viele Fremde ab, die Kuh-und Schafweiden zu betreten. Diese Grusel- und Schreckensgestalten faszinieren, schützen und ziehen vereinzelt immer wieder Fremde an, die für echte Abbilder und heimatliche Schnitzereien dieser Figuren gut bezahlen. Je schräger, desto besser.
Diese Gestalten des Migö, des Schrat, des Sennentuntschi und deren verschreckende Untaten müssen im Nebel der Erzählungen, des Vermeindlichen bleiben, in den geschützten Welten des „Es-könnte-sein“, der Märchen.
Aber eine reale Person oben auf dem Pass, dafür interessiert sich niemand. Ein solcher sei ein Hirngespinst Auswärtiger.
Das, was die Talbevölkerung beidseits des Passes schon immer wusste, dafür interessierten sich die Tourismusexperten der Städte nur am Rand, die in Stein geprägten Fußabdrücke der Elefanten Hannibals zum Beispiel. Barkas Hannibal, der große Feldherr, trieb, 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung, aus Karthago kommend, seine Elefanten eben über diesen Pass. Die Fußabdrücke der mächtigen Tiere sind dort oben, in Fels eingedrückt, verewigt und überall noch zu sehen. Damit ist auch belegt, dass Hannibal diesen Pass für seine Alpenüberquerung benutzte und nicht einen der andern, die das für sich auch beanspruchen. Aber diese Tatsache taten die aus der Stadt als zu geschichtslastig und ungewiss ab. Das war ihnen zu wenig spektakulär.

Die Regionalbehörden beider Anrainertäler beantragten vor Jahren eine Untersuchung der Gerüchte, dass oben in der Passregion weit über der Baumgrenze, bei den Bunkern, einer wohnen würde. Die Zentralregierungen zeigten kein Interesse. Das dort sei Grenzregion, davon solle man lieber die Finger lassen. Jede Behörde schob die Zuständigkeit auf eine andere. Keine Stelle fühlte sich für die unbewohnte, unbewohnbare Region zuständig. Gelder für grenzüberschreitende Maßnahmen oder gemeinsame Regionalentwicklungen wird den Gemeinden vor Ort immer mehr zusammengestrichen.

Im Obduktionsbericht stand, dass es sich um einen circa Mitte siebzigjährigen alten Mann handelt. Gegerbte, ledrige Haut, mitteldurchschnittlich groß, langes angegrautes Haar, Bart. Ein guter Ernährungszustand wurde ihm attestiert. Als Todesursache sei ein Herzversagen während des Schlafes anzunehmen. Weder seine Mimik, noch seine Körperhaltung weist auf ein schmerzhaftes Geschehen hin. Er sei eingeschlafen und friedlich verstorben. Die Pathologin meinte, ein leichtes, zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht herauslesen zu können. Der Tod sei mindestens sechs Wochen vor seiner Entdeckung eingetreten. Der genaue Zeitpunkt sei schwer bestimmbar, da der Leichnam keine üblichen Verwesungsmerkmale aufweise. Die ausgeklügelte Belüftung, eine ständige Frischluftzirkulation in dem Bunkersystem, leitete eine beginnende Austrocknung und Mumifizierung der Leiche ein. Es wurden keine Papiere bei dem Verstorbenen gefunden, die Hinweise auf die Identität des Mannes geben konnten. Kein Name, Herkunft oder ähnliches sei bekannt.

Georg, der Schafhirte, vermisste ihn. Nachdem er ihn seit Wochen nicht mehr sah, wurde er stutzig. „Wo war er?“ Er sah ihn nicht oft, manchmal durch seinen Feldstecher. Wenn er seine Schafe zählte und deren Stand überprüfte, huschte ab und an ein Schatten durch sein Bild. „Da ist er ja wieder“ dachte er sich dann. Alle paar Wochen trafen sie auch zufällig zusammen. Auf der Weide, den Bergmatten oder am Parkplatz bei den Touristenautos.
Aber nun sah er ihn schon lange nicht mehr. War er nicht mehr da?
Wo war er?
Plötzlich konnte Georg nicht mehr schlafen, konnte an nichts anderes als an ihn denken. Wo war er geblieben? Was ist mit ihm los? Warum ist er nicht da?
„Da ist einer verlustig“ sagte er dem Bauern, der ihn ab und an besuchte, um ihn mit Lebensmitteln für die kommenden Wochen zu versorgen. Georg zeigte dabei auf die Bunker, die massenhaft verstreut auf den Berghängen zu sehen waren. Als der Bauer ihn fragend anschaute, sagte Georg: “Der da immer war“. Der Bauer verstand sofort, als er die gefüllten Tränensäcke des Hirten sah.
Im Tal verständigte der Bauer die Polizei, dass da oben, am Pass, in den alten Bunkern vom Krieg, einer verschollen sei.
Der Amtshabende meinte, es läge keine Vermisstenanzeige vor und da es sich um die vergessenen Bunker, die damals schon zum Vergessen erbaut worden waren, handelte, wäre er auch nicht zuständig. Die Grenzer, das Militär, der Zoll vielleicht, wenn es überhaupt jemand dafür gibt. Der Bauer schaute den Polizisten streng an: „Da oben sind schon immer meine Schafe, und wenn da noch einer oben ist, der nun nicht mehr oben ist, wie der Hirte sagt, dann war da einer oben, der nicht mehr oben ist, der vielleicht noch oben ist, aber nicht mehr ist. Und darum scherst du dich, bevor ich mich um dich scher“ und ging durch die Türe wieder hinaus, durch die er hereingekommen war. Da dieser Bauer, Obmann der Talbauern war und Einfluss hatte, mit dem sich lieber niemand anlegte, verständigte der Diensthabende seinen Vorgesetzten, dieser den Zoll und gleichzeitig die Behörden der Armee. Irgendwer wird sich von denen schon zuständig fühlen.

Der Zoll beauftragte zur Abklärung des Falles eine interne Kompetenzanfrage und diese wurde auf ihren langwierigen, komplizierten Behördenweg geschickt. Beim Militär landete die Anfrage, abgeschoben, in der verstaubten Abteilung für Militärgeschichte. Dort bekam sie ein nicht gedienter Historiker in die Hände, der schon lange ein Auge auf diese Bunkeranlagen geworfen hatte, sie sichern möchte, sie, seit längerem schon, als militärisches Kulturerbe ausweisen wollte. Er beantragte eine Sondersitzung, in der beschlossen wurde, dass eine Rekrutenabteilung der Gebirgsjäger, im Rahmen einer fälligen Übung, die den Decknamen „Murmeltier“ erhielt, die Bunker untersuchen sollte.

Die ersten Inspektionen ergaben, dass große Teile der Bunkeranlagen einen bewohnten Eindruck machten. In den ausgedehnten Verbindungsgängen wurden an den Wänden eingeritzte Aufzeichnungen vorgefunden, die einer Schriftform entsprachen, ähnelten, aber nicht entziffert werden konnten.
Viele vorgefundene Räume wiesen auf unterschiedliche Benutzung hin. Es machte den Eindruck, als ob das System der Bunker in bewohnbare Sommer- und Winterräume aufgeteilt war. In einem stark durchlüfteten Raum hing viel getrocknetes und geräuchertes Fleisch, ein anderer schien als Räucherkammer zu dienen.

Den Toten fand man in einem schwer zugänglichen, verstecken Gelass. Daraufhin wurden sofort alle Zugänge des weitverzweigten Systems verschlossen, versiegelt und die Erkundung der Bunkeranlage für Wochen ausgesetzt.
Der Leichnam wurde, nachdem alle routinemäßigen, polizeilich eingeleiteten Untersuchungen, wie Gewebeproben, Spurensicherung, etc., abgeschlossen waren, bis zur Abklärung seiner Identität in das zentrale Kühlhaus für Mordopfer des Landes-Leichenschauhauses gebracht. Die wichtigste Frage war: was ist seine Identität, was trieb der Mann dort in den Bunkern, was machte er, wie überlebte er?
Als erstes wurde der Tippgeber, Georg der Hirte, befragt. Die Vernehmung wurde von einheimischen Polizeibeamten in Anwesenheit des Obbauern vorgenommen. Es wurde befürchtet, dass auf die eindringende Art der auswärtigen Mordkommission Georg nichts sagen würde, weil er die Beamten, wie auch sie ihn, nicht verstehen würde, und er in ein Schweigen verfallen könnte. Er war seit Jahrzehnten nicht gewohnt, auf Fragen, die nicht die Schafe betreffen, zu antworten.
Die Vernehmung ergab, dass Georg den Mann seit Jahren kannte, wobei kennen, im Sinne von „von jemandem etwas zu wissen“, zu viel gesagt ist. Er sah ihn meist beim Zählen seiner Schafe durch sein Fernglas in der Nähe der Bunker. Alle paar Wochen begegnete er ihm zufällig auf der Weide, meist wenn er seine Schafsherde, die auseinander zu driften drohte, mit seinem Hund wieder zusammentrieb oder auch manchmal, zufällig, aber selten, auf dem Parkplatz für die Autotouristen. Was er dort tat, konnte Georg nicht sagen. Mit ihm, mit diesem Mann zu sprechen, fand sich nie ein Anlass. Georg hätte auch nicht gewusst, was es mit ihm zu besprechen gegeben hätte. Sie erkannten sich, nickten sich zu und waren dadurch miteinander verbunden, vielleicht auch befreundet. Wann er ihn das erste Mal gesehen hatte, konnte er nicht sagen, nur dass er eines Tages fehlte, er ihn vermisste, sich um ihn Sorgen machte und dies dann dem Bauern sagte. Mehr wusste er nicht, zu mehr konnte er nichts sagen, zu mehr konnte er auch nicht befragt werden.
Ansonsten fand sich niemand, der zu dem Toten etwas zu sagen hatte, trotz eines Aufrufs mit Plakaten in den Dörfern der Täler.

Mit der Zeit wurde die Suche nach der Identität des „Toten im Bunker“, wie er intern nun genannt wurde, immer weniger und bald schlief sie komplett ein. Die Akte wurde amtsseitig, wie es bei ungeklärten Todesfällen üblich war, nie ganz geschlossen. Die Akten vergilbten aber und wanderten in den Schrank der nicht zu lösenden Fälle. Der Tote wurde freigegeben und auf dem städtischen Friedhof, in der Abteilung „Anonyme Bestattungen“ beigesetzt.
Die Erforschung der Bunkeranlagen wurde nach einem über sieben Monate langen strengen Winter, während dem der Pass unzugänglich war, nicht wieder aufgenommen. Die Siegel an den Zugängen fielen durch das Schmelzwasser des vielen Schnees ab und wurden nicht wieder erneuert.
Die ganze Passregion fiel in den Zustand, in dem sie schon seit jeher war. Die Gämsen, Steinböcke, Murmeltiere, wie die Bergdohlen und Adler bemerkten die kurze Unterbrechung der Abgeschiedenheit nicht.

In ein paar Universitäten grübeln Schrifttüftler von Seminar zu Seminar über die Aufzeichnungen an den Wänden der Bunker, die akribisch dokumentiert waren. Je mehr man sich keinen Reim darauf machen konnte, wurden sie, immer mehr vergeheimnist und in jede genehme, angesagte Richtung gedeutet.

Als ich im Sommer 1986, verschwitzt, durstig, fix und fertig nach dem steilen Anstieg, die Passhöhe mit dem Fahrrad und Gepäck erreicht hatte, war ich froh. Ich kam bei meiner Rast an einem entstehenden Bach, der nach beiden Seiten der Wasserscheide abfloss, mit einem Hirten in ein einsilbiges Gespräch. Der Hirte erzählte mir die Geschichte von dem Mann in dem Bunker. Er zeigte dabei immer wieder zu seinen Schafen, die dort grasten. Als er mir alles erzählt hatte, und ich mich schon fertig machte weiter zu radeln, fragte ich ihn, wie denn der Mann, der da oben wohnte, hieß: „Ich nannte ihn immer nur Lios im Versteck“.

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Die Fotografien entstanden 1986 auf dem Pas du paradis und dem Col de l‘Iseran, auf der Grenze von Italien und Frankreich.
Fünf der „Berg Bunker“ wurden das erste Mal 1987 in Berlin präsentiert und mit einem Preis ausgezeichnet. Sie verschwanden anschließend in meinem Archiv. Im Rahmen des „Monats der Fotografie-Off Berlin“ 2023 erinnerte ich mich wieder an die Fotografien, um sie wieder zu zeigen. Dazu erschien ein kleiner Katalog mit einem Text, „Lios im Versteck“, zu den Bildern. Dieser Text hat sich damals auf dem „Pas du paradis“ und „Col de I‘Iseran“ in meinem Kopf eingenistet und wurde nun, so viele Jahre später, niedergeschrieben.

Roland Albrecht

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