Andreas Erb
Strauchelnd auf andere Gedanken kommen
Oder: Denke ich an das Museum der Unerhörten Dinge, schweife ich ab*
Eingang 1
Zum Inventar der Dingwelt, der erhörten Dingwelt des Roland Albrecht, gehört das Fernrohr des Kolumbus. Es nimmt dabei im Gesamtensemble der Dinge, der erhörten wie unerhörten, zweifellos eine Sonderstellung ein. Was natürlich etwas mit dem Objekt an sich zu tun hat. Nur ein flüchtiger Blick in die Aufzeichnungen des Christoph Columbus offenbart jene Augenlust, die ihn umtrieb, jenes unbedingte Sehen-wollen, jener „Augenschein“, wie Columbus es nannte, „alles in Augenschein zu nehmen, um Euren Hoheiten darüber genauen Bericht erstatten zu können und um eine Stelle ausfindig zu machen, wo ich eine kleine Festung errichten könnte“. Das ist ein Topos in der Kulturgeschichte: Sehen, staunen, in Besitz nehmen gehören untrennbar zusammen, wobei die Inbesitznahme einmal imateriell erfolgen kann: aufzeichnend, sodann aber materiell durch physische (zumeist gewaltvolle) Aneignung. Columbus Augenschein führt zu beiden Formen – penibel registriert er, schreibtauf und nimmt anschließend das Land in Besitz, zwar in keinem Fall für sich selbst, aber für eine höhere Ordnung, der er unterstellt ist. So kurz, so bündig: Sehen und koloniale Machtausübung gehören zusammen. Das Fernrohr des Kolumbus ist somit ein entscheidendes Medium im globalen Machtgefüge. – Roland Albrecht muss die Besonderheit des Fernrohrs schon früh erahnt haben. Ein genauerer Blick lohnt schon deshalb, hinzu kommt, dass die Geschichte um das Fernrohr als Schlüsseltext zu lesen ist: Mit ihm erfassen wir die weite Welt der erhörten Dinge, gleichsam öffnet es uns die Tür zum Museum der Unerhörten Dinge.
Das Fernrohr des Kolumbus oder Wie das erste Exponat in das Museum kam, als es das Museum noch nicht gab. Was für ein Titel, welch barocke Opulenz, was für eine manieristische Augenzwinkerei, wobei sich hier die drei Aussagenteile gut miteinander verbinden. Das Fernrohr ist somit das erste Museumsstück avant la lettre. Das Ding erfährt dabei schon im Titel eine Aufwertung, es steht in einem übergeordneten Kontext, der weit über den einzelnen Gegenstand hinausweist. Dieses Prinzip greift Roland Albrecht in vielen Überschriften auf. [Wie das Eldelweiß zu seiner Berühmtheit kam oder Die Blume der Gräfin Maria Franziska zu Dornbirn --- Bruno Retlau und sein Tonneutralisator oder Die gehörte Stille des Antischalls --- Wie das Ahoi zur Seefahrt kam oder Der Beitrag der meerlosen Böhmen zur Schifffahrt] Doch gemach gemach, worum geht es eigentlich bei der Fernrohr-Geschichte.
Zunächst ist es eine Differenzerzählung. Ein Junge besitzt das Fernrohr, der kleine, elfjährige Roland nicht. Gleichzeitig verfügt er über erhebliche Tauschmittel, die ihn in die Lage versetzen, das Fernrohr in seinen Besitz zu bringen. Bezeichnend dabei ist die Motivation: „Ich sah, wie er mit dem Fernrohr angab, sich mit ihm in Szene setzte, wie er sich selbst wichtiger nahm als das Fernrohr. Ich sah, wie lieblos er mit dem Fernrohr umging, es nicht achtete, es nur benützte, um selbst beachtet zu werden.“ Wir kennen alle den heute im gesellschaftlichen Diskurs viel zitierten Begriff der „awareness“. Roland Albrecht überträgt ihn auf das Verhältnis von Mensch und Ding. Es geht um Achtsamkeit, Aufmerksamkeit,Fürsorge und Wertschätzung – gegen Gewalt, Diskriminierung, Ausgrenzung, hier gegen eine Selbstsucht, der alle Mittel recht sind, sich selbst zu erhöhen. Und einen Absatz weiter heißtes: „Ich spürte, dass der Junge das Fernrohr nicht wert war, ja, schlimmer noch, dass er das Fernrohr gefährdete. Wie sollte es mir gelingen, das Fernrohr, das ich als etwas Besonderes erkannte, aus seiner Unachtsamkeit zu befreien, aus seiner unwürdigen Behandlung zu retten?“ Der Mensch wird hier zum unzumutbaren Gegenüber der Dingwelt stilisiert, dem jede Sensibilität fehlt, das Gegenüber in seiner ganzen Größe und Würde wahrzunehmen. „Dass der Mensch edel sei, hilfreich und gut, so ganz im Allgemeinen, konstatiert ja leider kein Faktum, sondern eine mehr denn je offene Forderung“ – schreibt Hans Wollschläger in einem Aufsatz von 1987 mit dem signifikanten Titel „Tiere sehen dich an oder Das Potential Mengele“. Das gilt nach wie vor und zuvörderst in der Beziehung von Mensch zu Mensch, dann – und darum geht es Wollschläger – im Verhältnis von Mensch und Tier und umfasst schließlich das Verhältnis von Mensch und Dingwelt. Menschen und Dinge leben nicht nebeneinander, sondern in Bezüglichkeit zueinander. Dinge haben vielfältige Eigenschaften, die erkannt werden müssen. Dinge haben Biografien, denen wir nachspüren können, sie haben eine ernstzunehmende Provenienz, die wir respektieren sollten. Dinge äußern sich und müssen gehört und nicht ignoriert werden. Roland macht sich auf all das, was ihm begegnet einen Reim – er sucht einen Standpunkt und hört von da aus zu, jenseits einer Normativität des ‚So ist und so war es immer schon‘; der Perspektivwechsel schafft Stolperstellen, das Straucheln ist vorgesehen – und das gilt nicht nur für die „schwarzen Eicheln“, die im Herbst in Wiepersdorf auf der Erde liegen. Es gehört nämlich zu den Ungeheuerlichkeiten unserer Zeit, dass diese Form von Achtsamkeit mehr und mehr verloren geht. Das ist tatsächlich unerhört. Sie sehen: Ich lausche der Fernrohr-Geschichte von Roland Albrecht eine Programmatik ab, die hinter dem gesamten Konzept des Museums steht. Es geht um Weltwahrnehmung in der besonderen Form der erzählenden Zugewandtheit. Und die ist explizit nicht an Museumsräume gebunden, wie Roland im Nachwort seines Kataloges selbst schreibt: „Die Sammlung des »Museums der Unerhörten Dinge« ist bereits vorhanden, sie ist vor der Tür des Museums, die vollständige Museumssammlung ist außerhalb des Museums zu finden, es sind alle, sämtliche Dinge überall – dort ist das Universalmuseum, nicht eingeschlossen, nicht bewacht von Sicherheitspersonal. Es ist vorhanden, für jeden Menschen greifbar, begreifbar, verfügbar.“ Das heißt nichts anderes, dass wir im Museum der Unerhörten Dinge etwas vorgeführt bekommen, was Einfluss nimmt auf unser Verhältnis zur Welt. Und das wiederum zeigt, wie sehr das Museum – ganz nach den Vorstellungen des Museumsbundes – als Bildungseinrichtung zu verstehen ist. Sie mögen den Kopf zur Seite neigen, die Stirn runzeln und ‚na na‘ denken, ‚das ist doch übers Ziel hinausgeschossen – der Albrecht ist doch vor allem lustig‘. Sie haben recht, das stimmt – in jeder Zeile von Roland Albrecht entdecke auch ich ein feinsinniges Augenzwinkern und ich zitiere sehr gerne seinen wiederholten Hinweis auf den „Möglichkeitsraum“ von Kunst, also auch des Museums der Unerhörten Dinge. „Seit es die Menschheit gibt“ schreibt Roland und markiert eine anthropologische Grundkonstante: „Seit es die Menschheit gibt und die Fähigkeit zur Reflexion über das Vorgefundene, gibt es die Sehnsucht nach Phantasieräumen, Räumen, die jenseits des Realen, des Alltäglichen sind. Es ist die Aufgabe der Literatur, der Musik, der Kunst, diese Möglichkeiten auszuloten, Räume jenseits des Realen zu schaffen, sie aber nicht als Handlungsanweisungen, als wahr auszugeben.“ Dieser „Möglichkeitsraum“, der uns dann erfreut und belehrt, setzt aber Wahrnehmung und Erkenntnis voraus, kommt nicht aus ohne Ernsthaftigkeit im Verhältnis zur Welt. Der Junge, der sich wichtig nimmt, weil er ein Fernrohr sein Eigen nennt, ohne zu wissen, dass das Fernrohr einst Kolumbus gehörte, ist nichts mehr als ein aufgeblasener Popanz, der vielleicht das Wort „Möglichkeitsraum“ nur mit Mühe buchstabieren konnte.
Ich bin noch nicht ganz am Ende mit dem Kolumbustext. Ganz unverhohlen markiert er nämlich auch einen biographischen Moment der Selbstermächtigung. Der kleine Roland wendet sich ab vom merkantilen Dasein des Vaters, verlässt sozusagen die genealogisch vorgegebene Welt des Merkantilen, die das Dasein eher dem pragmatischen Kosten-Nutzen- Kalkül unterwirft und es von dort aus betrachtet, gibt diese Perspektive auf, die so ganz und gar dem Prosaischen verschrieben ist. Es ist eine Emanzipationsbewegung von der Krämerzur Sammlerseele, an dessen Ende der Museumsdirektor steht. Und offenbar überwindet der Elfjährige damit auch die empfundene Schmach der körperlichen Erniedrigung, die er durch die Schulkollegen erfahren musste. Am Ende scheint das Fernrohr des Kolumbus eine grundlegende und kräftigende Wirkung auf das Selbstbewusstsein des Roland Albrecht gehabt zu haben.
Vielleicht können Sie nachvollziehen, warum ich eingangs von einem ‚Schlüsseltext‘ sprach. Er ist jedoch gleichzeitig ein Ausnahmetext, der von seiner Struktur überhaupt nicht in die Systematik des Museums der Unerhörten Dinge gehört. Nein, so darf ich das nicht sagen. Er gehört nicht in den Vorderraum des Museums in Berlin, Crellestraße 5-6. Es ist ein Schwellentext, durch den hindurch wir gehen, wenn wir das Museum betreten. Nein, das stimmt auch nicht so ganz – das suggeriert eher die Neuauflage des Buches – in der ursprünglich, leinengebundenen Ausgabe gibt es das Fernrohr noch überhaupt nicht. Es ist vielmehr ein Grenztext an der Schnittstelle von Museum und Depot. Wobei ich bei den Räumen angelangt bin.
Eingang 2
Es ist viel geschrieben worden darüber, dass das Museum der Unerhörten Dinge in einem Zwischenraum angesiedelt ist, zwischen der Hausnummer 5 und 6 in der Crellestraße in Schöneberg. Das ‚Dazwischen‘ als Denkfigur ist anregend, ohne Frage. Es markiert einen Schwebezustand, eine gleichzeitige An- und Abwesenheit, hier finden Positionen des Nicht- Binären ihren Platz, usw. Das ist selbstredend die adäquate Umgebung für erhörte Dinge, für Dinge, deren Geschichte vernommen und aufgeschrieben wurden jenseits von normativen Vorstellungen einer wie auch immer gearteten, einer konstruierten, einer sonstwie zustande gekommenen oder überlieferten ‚Wahrheit‘ mit manifestem Alleingeltungsanspruch. Von der Straße betreten wir den Museumsraum zusammen mit dem Licht des jeweiligen Tages: Hier stehen die erhörten Exponate, hier befindet sich das Herzstück der „literarischen Wunderkammer“, wie Roland sein Museum immer wieder bezeichnet. Der Eingangstür gegenüber befindet sich ein weiterer Durchgang, der in das Schaudepot führt, in das Depot der unerhörten Dinge, jener Fundstücke, jener urbanen Anschwemmsel, all jener Dinge, die ihren Weg ins Museum gefunden haben. An diesem „Ort der Verschwiegenheit“, wie Roland Albrecht das Depot im Allgemeinen bezeichnet, herrscht Ordnung. Nach Gewicht kategorisiert hängen dort all die Dinge, die nur darauf warten, dass sich ihnen ein Ohr zuwendet, dass ihre Geschichte aufgezeichnet wird, dass sie als erhörte Dinge nach vorne ins Museum kommen. Dazu Roland Albrecht: „Alle Dinge des Depots sind dem praktischen Gebrauch entzogen. Sie werden weder verkauft noch benutzt. Eine Heizdecke wird nicht als Heizdecke benutzt, ein Hüftgelenk nicht mehr eingesetzt, eine Kerze nicht mehr angezündet, mit einen Schuco-Auto nicht mehr gespielt.“ Die Dinge existieren an und für sich, lediglich ihr Gewicht bestimmt den genauen Ort ihrer Aufbewahrung. Es ist ein System, das keinerlei ideologische, ästhetische, subjektive Hierarchisierung zulässt, die Kategorisierung nach dem objektiven Gewicht vermeidet Einschränkungen im Zugriff jedweder Art und gibt keinerlei Semantisierungen vor. Dieses Depot ist damit ein Raum, der potentiell alle Energie enthält um sich irgendwann zu jener Wunderkammer des Vorderraumes zu entwickeln – ein Zukunftsraum.
Eine lange Beschreibung für einen schlichten Befund: Das Museum der Unerhörten Dinge besteht aus einem Museumsraum und einem Depot, einem Durchgangsraum für Besucherinnen und Besucher und einem Durchgangsraum für Dinge. Neben dem Dazwischen des Museums als Ganzem, dem Raum zwischen den Hausnummern fünf und sechs, ist das Museum somit ein Transitraum. Solche Transiträume verfügen ebenfalls über eigene Strukturen, sie sind fluide, verflüssigen das Da-Sein, ein Verbleib ist nicht vorgesehen, sihr Prinzip ist die Passage – wobei ich bei der nächsten Denkfigur bin.
Ich unterbreche mich, ungern zwar, aber dem Zeitrahmen geschuldet, schließlich sind wir jaauch nur temporär hier versammelt, sind bald schon wieder im Aufbruch – wichtig ist mir, dass die beiden skizzierten Räume, die zusammengenommen das Museum der Unerhörten Dinge begründen, unterschiedliche Erzählweisen kennen. Im Museum vernehmen wir die Stimme der Dinge vermittelt durch jene des Mediums, hören wir Roland Albrecht, wie er sich hinter und in den Dienst der Artefakte stellt. Im Depot dagegen ist es für gewöhnlich still – außer Sie besitzen das Vermögen, das Geraune der Dinge wahrzunehmen … Oder Sie, wir, die Besucherinnen und Besucher, haben das Glück, dass Roland Albrecht, nun in der Rolle des Museumdirektors vom Weg der Dinge hinein ins Museum spricht. Das sind aber ganz andere Erzählungen als jene der erhörten Dinge. Da verknüpfen sich biographische Aspektedes Direktors mit den Dingen selbst. Das Depot enthält somit Erzählungen zweiter Ordnung, die lediglich das Verhältnis zwischen Roland Albrecht und den Dingen markieren, kaum aber über das Wesen der Dinge selbst preisgeben. Und nun verstehen Sie auch, warum der Text über das Fernrohr des Kolumbus als Text ein Hybrid ist. Denn er leistet beides. Er erzählt von Kolumbus, von seinem Blick am 12. Oktober 1492 auf Amerika durch eben jenes Fernglas. Und er erzählt, wie das Fernglas in seinen Besitz kam und welche Folgen dies hatte.
Und so, wie es zwei Stimmen des Roland Albrecht gibt, so verändert sich übrigens auch derRezeptionsmodus der Museumsbesucher_innen: Vorne sind sie still, lesen, befragen die Texte, vielleicht googeln sie sogar heimlich oder wenden sich an den Direktor. Hinten im Depot agieren sie, bereits infiziert durch die Texte vorne, ganz anders – hier plötzlich beginnen sie selbst zu erzählen, stellen Verbindungen her von Objekten an den Wänden zu sich, zu ihren Eltern, zu ihren Großeltern - oder fragen ganz offen: „Wie kommt denn Lurchi in diesen Raum?“. Und hören dann eine Geschichte, die ebenfalls mit einem verwehrten Wunsch zu tun hat, denn der kleine Roland bekam nie Salamander-Schuhe, mithin auch kein Lurchiheft, noch weniger eine Lurchi-Figur. Und so setzt sich die Geschichte fort und endet schließlich mit einem Bentley, der in der Crellestraße parkt. Alles Weitere kann Ihnen Roland Albrecht erzählen. Geschichten wie diese paaren sich dann mit eigenen Erfahrungen und je gelöster – befreiter, enthemmter – die Stimmung, flimmert der Raum vor lauter Geschichten und Anekdoten. Dann ist kein Halten mehr, auch die erhörten Geschichten spielen nur noch eine untergeordnete Rolle, denn jetzt geht es nur noch um das Unerhörte im eigenen Leben. Magie bricht sich Bahnen, Poesie verdrängt Prosa, die Wirklichkeit der Verhältnisse weicht der Lust zu fabulieren – und hinaus geht es auf die Straße: zu den Dingen.
* Vortrag, Köln 13.10.2024, Bohde Fenster / NICO Nippes contempery e.V.