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zeitagenturÜber das Wesen und den Sinn von Zeitagenturen

 

Die Zeitagenturen liegen meist in kleinen abgelegenen Straßen. Sie sind oft auf den ersten Blick nicht als Zeitagentur zu erkennen, kein Schild, kein Hinweis. Oft hängt noch eine Reklame des ehemaligen hier untergebrachten Geschäftes über der Tür, „Bäckerei“, „Getränkestützpunkt“, „Imbiss“, „Hausaltswaren“ und dergleichen. In diesen Räumen wird Zeithabern ihre zuviel zur Verfügung stehende Zeit verbraucht, strukturiert, um auf gleicher Höhe, auf gleicher Ebene wie Zeitmangler zu stehen und um als Zeithaber nicht erkennbar zu sein, hier an diesem Ort kann Zeit abgegeben und/oder verbraucht werden.

Zeit zu haben, einfach Zeit zu haben, ist etwas Ungewöhnliches, es ist etwas Anstößiges, es ist nichts Zeitgemäßes, etwas, das man vermeiden möchte. Nur die, die aus der Zeit gefallen sind, haben jede Menge Zeit, stehen an den Ecken herum, sitzen am helllichten Werktag auf den Parkbänken. Die, die Zeit haben, gehören nicht mehr dazu, ja, man muss aufpassen, dass sie einem nicht die knapp bemessene Zeit stehlen und ein Hindernis, z.B. durch zu langsames Gehen oder unmotiviertes Herumstehen, darstellen.
Fragen Sie einmal am Telefon: „Können wir uns heute gegen 18 Uhr treffen?“, man könnte meinen, es wäre eine einfache Frage, aber als Antwort bekommt man meist ein : „Oh, ich muss mal nachschauen, ob ich da was habe, ich hab sowenig Zeit.“

Früher gab es die Rentner und Kinder, die jede Zeit der Welt hatten. Das ist vorüber. Die Rentner sind in ihrem dritten Lebensabschnitt in Ehrenämtern mit sich selbst beschäftigt, reisen in der Weltgeschichte herum, bilden sich neu, halten ihren Körper fit, und bei den Kindern ist die Schule nur ein täglicher Termin neben vielen anderen, dem Ballettunterricht, der Nachhilfe, der Musik, dem Reiten, den Therapiesitzungen etc. Die Zeit ist knapp bemessen, an Zeit ist immer Mangel.
Zeit zu haben gilt als Stigmatisierung. Penner, Hartzvierbezügler, Nixtuer haben Zeit, das Präkariat verschwendet sie. Zeit zu haben ist ein soziales, ein gesellschaftliches Problem geworden, Zeithaber sind im gesellschaftlichen Abseits angesiedelt, sie ernähren sich falsch, bewegen sich zu wenig, sind faul, ungebildet, haben zu viele Kinder und neigen zu gewalttätigen Handlungen, besonders jugendliche Zeithaber. Andere Zeithaber werden depressiv, besitzen jede Menge Zeit, um nachzudenken, zu grübeln, empfinden die viele Zeit als Belastung, sehen sich als Außenseiter, werden passiv, träge, von trüben Gedanken gequälte Kreaturen. Jemand, der Zeit hat, weiß mit seiner Zeit nichts anzufangen, denn wäre es anders, hätte er keine.

Zeithaber nehmen erschreckend zu. Die Arbeitslosigkeit erzeugt immer mehr Zeithaber, erzeugt Menschen, die über mehr Zeit verfügen als sie verbrauchen können, die zu viel Zeit besitzen. In dieser Lücke, in dieser Nische haben sich die Zeitagenturen angesiedelt. Sie sind meist unauffällig untergebracht, ohne Schild, oft in kleinen uneinsehbaren Seitenstraßen. Man erkennt sie kaum, denn auch bei einem guten Bäcker stehen Menschenschlangen an, bei einem Fleischer sowieso, ein Geschäft könnte ein Sonderangebot haben oder gleich öffnen. Dass die Menschen Schlange stehen, um Zeit loszuwerden, um Zeit zu verbrauchen, um Zeitballast abzuwerfen, ist den Schlangestehern nicht anzusehen.

Jeder Zeithaber, der Kontakt mit Zeitagenturen hat, besitzt Termine, sein Gehen hat ein Ziel, er ist in Bewegung und lebt wie ein Zeitmangler, muss haushalten mit seiner Zeit, sein Zeitverbrauch ist geregelt. In einer Zeit wie der heutigen, wo Beweglichkeit das oberste Ziel darstellt, der Köpper in ständiger Bewegung ist, man joggt, radelt, besteigt Berge, ist flexibel und gerüstet, unterliegt jede Bewegung einem Zweck.

Es wird verlangt, sich ständig der neuen Zeit anzupassen, mit größter Flexibilität den Anschluss nicht zu versäumen, die neuen Programme müssen gelernt sein, die ständigen Fortbildungen passen den Menschen an die neue Zeit an, lebenslanges Lernen ist angesagt, was heute gelernt wird, ist morgen veraltet.

Die Zeitagenturen geben den Zeithabern wieder einen Sinn, indem sie sie in die Zeit einbinden. Sie nehmen ihnen die zur Verfügung stehende Zeit sinnvoll und aufwändig ab. Kritiker der Zeitagenturen sprechen von Zeiträubern, die anderen Leuten ihre Zeit stehlen.

Die Zeitagenturen selbst sehen sich auf der Höhe der Zeit. Sie binden ihre Mitglieder ein, unterwerfen sie einem Zeitmanagement, einer ausgeklügelten Zeitökonomie, geben ihren Mitgliedern Halt, leiten ihre Mitglieder zur sinnvollen Zeitplanung und Verausgabung an, manch engagierter Zeithaber verwaltet seine Zeitabgabetermine mit einem Organisator, der täglich elektronisch mit dem eigenen PC synchronisiert wird.

Die Zeitagenturen entstanden, unbeachtet von der Mehrheit der Gesellschaft, zuerst in den Neuen Bundesländern und sind heute flächendeckend in ganz Deutschland verbreitet. Sie gingen aus Eigeninitiativen von Zeithabern hervor. 2006 gab es in Essen den ersten Bundeskongress der Zeitagenturen, auf dem eine Koordinierung der Zeitabgabestellen beschlossen wurde. Seit dem Frühjahr 2007 gibt es einen internationalen Verband von Zeitagenturen, da sich die Idee von Zeitabgabestellen auch in anderen Ländern herumgesprochen hat und dort auch erfolgreich angenommen und umgesetzt wird.


Literatur:
Bernhard Kathan: Herdenmanagement und Schlangestehen. Innsbruck, 2008.
Friederike Thomas: Vom Bäckerladen zum Zeitensammler. Stralsund, 2007.