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Die merkwürdige Auswirkung
der Angst vor Stromverteilerkästen
und deren Folgen

Zuerst tat man die Bewegung als eine Ansammlung von paranoiden Spinnern ab, die der Vorstellung anhingen, dass die Stromverteilerkästen, die an Straßenrändern, an Zäunen, mitten im Wald, unscheinbar, grau, oft beschmiert, herumstehen, eine Bedrohung darstellen. In den sozialen Medien bildeten sich Foren, in denen über die Gefahr diskutiert und die Angst davor durch massenhafte Berichte anderer bestätigt wurde.

Alsbald gründeten sich in vielen Städten Gruppen, die unter verschiedenen Namen mit Kundgebungen an die Öffentlichkeit gingen. Sie nennen sich „Besorgte Bürger Leipzig gegen das Diktat von Verteilerkästen“ (BLiDiVer), oder „Besorgte Bürger Hamburgs gegen die Verschwörung von Verteilerkästen“ (BaHaVerka). Was alle Gruppen gemeinsam haben ist, dass sie eine akute Bedrohung in den grauen Verteilerkästen sehen und sich mit ihren Sorgen und Ängsten allein gelassen fühlen.

Sie sind überzeugt, dass die tausenden, hunderttausenden, ja Millionen miteinander verkabelten Verteilerkästen untereinander in Verbindung stehen und dadurch eine Maschinerie bilden, die die Menschen unterjocht, ja versklavt.

Die Bewegung bezieht sich auf ein 1928 erschienenes Buch, in dem der Wissenschaftler und Esoteriker Joachim Gunther (1882-1949) über die „Verselbständigung von Verkabelungen“ schreibt, wie ab einer gewissen „Masse“ von Kabelverbindungen die Quantität in eine neue Qualität umschlägt und dadurch ein künstliches neuronales Netz mit eigener Intelligenz entstehe. Das mehrere hundert Seiten starke Buch ist schwierig zu lesen, da Joachim Gunther sich selbst ständig als Referenten zitiert.

Der Wissenschaftsjournalist Martin Tringler hat eine aufrüttelnde Neufassung des Buches geschrieben, das im „Verlag der Freiheit“ erschienen ist. In diesem Buch weist er nach, dass alle Befürchtungen von Joachim Gunther schon eingetroffen sind, dass die vorausgesagte neue Intelligenz schon seit ca. 20 Jahren aktiv ist und die Versklavung des Menschen durch die weltweite Vernetzung der Verteilerkästen bereits stattgefunden hat.
In diesem Buch, das eines der meistgekauften Bücher des Jahres wurde, beschreibt er, wie täglich von der einfachsten Informationen bis zu den Milliardenumsätzen der Börsen, von dem gelehrten 1x1 in der Grundschule bis zu den Hochgeschwindigkeitsrechnern, von dem normalen Polizeifunk bis zu der Steuerung von Kriegsdrohnen und Satelliten, dass all dies über ein einziges Netz von Verkabelungen verläuft, in Verteilerkästen sortiert, umgeleitet, umgerechnet und kontrolliert wird; sämtliche Handyaktivitäten, Computerarbeiten, kein Bereich des Lebens ist ausgenommen.
Er weist akribisch nach, dass alle diese Verkabelungen weltweit untereinander in Verbindung stehen, wie sich eine gigantische Länder, Kontinente, politische Systeme übergreifende Machtstruktur, wie sich eine eigene Intelligenz herausgebildet hat, die keiner menschlichen Kontrolle unterliegt, unterliegen kann. Das Bestreben dieser Macht, dieser unsichtbaren, unvorstellbaren Herrschaft, ist ihre rasante Vervielfältigung, damit eine immer größere dezentralisierte und dadurch unzerstörbare Verkabelung entsteht. Das Ziel sei es, den Menschen zu einem abhängigen Diener, zu einem unmündigen Handlanger der Kästen zu machen, bis die Menschheit kein anderes Bestreben mehr habe, als das Netz weiter auszubauen, zu vervollständigen, immer und überall neue Verteilerkästen zu errichten. Die Menschen würden in diese Sucht getrieben, sie würden „versüchtigt“.

Die neu gegründete Partei mit dem Namen „Freiheit für Deutschland“ FfD nahm sich des Themas an und bekam sofort einen großen Zulauf. Es vergeht kein Tag in dem die Medien nicht im großen Stil über die neue Partei, meist negativ, berichten. Bei den ersten anstehenden Länderparlamentswahlen konnte die FfD auf Anhieb die 5 % Klausel überspringen.

Vertreter der Partei sind ständige Gäste in Talkshows und etablierte Politiker werden zur Belustigung der Zuschauer mit ihnen konfrontiert. Niemand kann die Anti-Verteilerkästen-Argumentation entkräften, denn jeder Widerspruch wird sofort als Beleg für die Macht und Manipulation der Verteilerkästen angeführt. Eine Stromstörung während einer Sendung, wofür kein Schuldiger gefunden werden konnte, führt ein Sprecher der Partei als Beweis für das selbständige Handeln der Verteilerkästen an, sie hätten verhindert, dass er die Wahrheit über die Gefahren der Verteilerkästen aussprechen konnte.

Bücher wie „Die Wahrheit über die Kästen“, „Für Freiheit und Selbstbestimmung“, „Die Gefahr durch Vernetzung und Globalisierung“, „Das menschliche Maß geht kastenweise verloren“, „Mein Leben ohne Kabelung“ und viele andere, meist im „Verlag der Freiheit“ erschienen, erreichen große Auflagen, werden meist von den Leitmedien ignoriert, lösen aber in sozialen Netzwerken lawinenartige Zustimmungen aus.

Nachdem die ersten Verteilerkästen zerstört wurden, gesprengt, umgefahren, zertrümmert, sprach man anfangs von „dummen-Jungen-Streichen“. Als die Zerstörungen von Verteilerkästen massiv zunahmen, distanzierte sich die FfD von jeglicher Gewalt, sprach von der verständlichen Angst der Bürger, von der Untätigkeit der etablierten Politik und deren lügenhaften Monopolmedien. Die offiziellen Unwahrheiten würden die Menschen richtiggehend zwingen, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Die überall um sich greifende Gewalt sei die Reaktion auf die unerträgliche Arroganz der Herrschenden.

Die etablierten Partien nehmen sich nun des Themas an, sprechen, meist in vereinfachter Sprache, von den verständlichen Sorgen der Bürger, die man ernst nehmen müsse.

Eine Partei fordert nun eine sofortige Untersuchung, wie es zu der massenhaften Verbreitung der Kästen kommen konnte, eine andere fordert eine strikte Obergrenze der Verteilerkästen, andere weisen auf den ökologischen Schaden, der von den Kästen ausgehe, hin, die Wirtschaft spricht von einer unseligen Debatte, man bräuchte die Kästen im Wirtschaftsstandort Deutschland, die Gewerkschaften weisen auf die Arbeitsplätze hin, die hinter jedem Kasten stecken.

Alle etablierten Parteien sehen ihre Deutungs- und Debatten-Hoheit in Gefahr, die Wähler laufen ihnen massenhaft davon und fühlen sich von der FfD verstanden und vertreten. Vom Zerfall der Demokratie ist die Rede.

Während der ganzen Zeit werden an allen Ecken und Enden, auf Wiesen und in Wäldern, in Städten, in Dörfern, an Straßen und Wegen, an Stellen, wo man sie nie vermuten würde, massenhaft immer neue Verteilerkästen aufgestellt, wie Pilze nach einem warmen Regen schießen sie aus dem Boden.

Literatur:
Gunther, Joachim: Verselbständigung von Verkabelungen, Leipzig, 1928
Tringler, Martin: Unterjochung - Die Voraussagen des J. Gunther, Magdeburg, 2010
Verstander, Martin: Wann paranoider Wahn Massen befällt, Köln, 2015
Bleiber, Jan: Vom Wahn zur Macht, München, 2016