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Sündenbock HornVon Sündenböcken und deren Nachkommen

SvK gewidmet

 

Die Vertreibung
1905, 15. Januar. Eine Gruppe von deutschsprachigen Einwanderern versammelte sich, um über ihr Zusammenleben in der neuen Heimat zu sprechen. In der letzten Zeit häuften sich die Auseinandersetzungen in der Gemeinschaft.

Die Einwanderungsbehörde in Sydney hatte ihnen ein trockenes Steppengebiet zwischen dem Pazifik und der Wüste Stur, mehr in Richtung Wüste, zugewiesen. Ihnen wurde versichert, dass das Gebiet relativ frei von Ureinwohnern sei, dass sie also keine Bedenken haben müssten, sich das zugewiesene große Gebiet anzueignen. Wie sie ihre neue Existenz aufbauten, sei ihnen überlassen, solange sie Gottesfürchtigkeit zeigten, einen moralischen Lebenswandel betrieben und sich dem Recht und dem Gesetz unterstellten.

Über 100 Personen mussten, wollten nun in einem großen Areal unfruchtbaren Landes gemeinsame Regeln des Zusammenlebens, des gemeinsamen Wirtschaftens finden. Jeder war auf den anderen angewiesen, denn ein Einzelner hätte in dieser kargen Gegend keine Chance.

Es war eine heterogene Gruppe, das einzige, was sie verband war, dass sie alle deutsch sprachen, wenn auch in sehr unterschiedlichen Dialekten. Ein großer Teil der Gruppe kam aus Ungarn und der Bukowina, ein Teil aus dem Zipser Land, aber auch Tiroler, Schwaben, wie auch Leute aus dem Badischen waren unter ihnen. Das, was sie zusammenhielt war, dass sie alle gewichtige Gründe hatten, das alte Europa zu verlassen, um ein neues, völlig neues Leben zu beginnen, das alte sollte nicht nur hinter ihnen liegen, es sollte getilgt werden. Die einen waren der schlechten wirtschaftlichen Lage, der Armut, entflohen, andere waren getrieben von der Abenteuerlust, einige entzogen sich Strafen, mehrere ledige Frauen waren aus ihren Familien verstoßen worden und versuchten mit ihren Kindern einen Neuanfang. Ein paar junge Männer sprachen nicht über ihre Vergangenheit, ein dunkler Schatten zog sich über ihr Gesicht, wenn man sie danach fragte, was bald keiner mehr tat.

Ein Jahr lebten sie nun schon zusammen, hatten sich Unterkünfte gebaut, ein gewählter Bürgermeister wachte über ihr Tun, ein Gruppenrat begleitete und kontrollierte ihn und traf weit reichende Entscheidungen. Zwei Geistliche waren für das Seelenheil zuständig, ein jüdischer und ein christlicher. Es kam aber immer wieder zu Zerwürfnissen innerhalb der Gruppe, Streitereien, Neid, Unterstellungen, Handgreiflichkeiten. Beim genauen Hinsehen handelte es sich meist um Missverständnisse, deren Grund im alten Europa lag, in den verschiedenen Herkünften und des dortig erlebten, der dortigen Gebräuche, kurz in der eignen Vergangenheit und in Erinnerungen, die ein Jeder, eine Jede, mit sich herumschleppt. Die Appelle der Geistlichen, sowie der selbst gewählten Obrigkeit zur Friedfertigkeit verhallten zunehmend im Leeren.

So wurde beschlossen, eine Generalversammlung abzuhalten. Am Sonntag den 15. Januar 1905 war es so weit. Nach vielem hin und her wurde festgestellt, dass ein jeder noch viel zu viel Ballast von ehemals mit sich herum trägt, und dass ein Neuanfang erst stattfinden könne, wenn man alle seine Bürden von früher, aber wirklich alles, was einen belastete, betrübte, alles, an was man sich nicht gern erinnerte, abgelegt sei, dann erst wäre ein wirklicher Neubeginn möglich, könnte man mit einer Stunde Null neu anfangen.

Es wurde einstimmig beschlossen, dem Vorschlag der Geistlichen zu folgen, eine bewährte Tradition aus dem alten Testament wieder zu beleben und einen Ziegenbock, beladen mit allem Belastenden, in die Wüste zu schicken.

Eine jede, ein jeder bekam die Aufgabe, bis zum nächsten Sonntag alles, was man los haben möchte, die ganzen schlechten Erinnerungen an früher, das Belastende, Bedrückende, das worüber man nie sprechen würde, all das, was von einem weg gehöre, weit weg, dies alles, mit dem man nie mehr etwas zu tun haben wolle, anonym auf einen Zettel zu schreiben. Die ganzen Zettel würden dann dem ausgesuchten Ziegenbock an die Hörner, an den Schwanz, an den Bart gebunden und dann unter der Mitwirkung aller, wirklich aller, von allen in die Wüste geschickt, wohin er, der Bock, all die Sorgen, all das Schlechte, das Nicht-Gewollte mit sich nimmt und nie mehr zurückkehrt, für ewig verbannt in der Wüste bleibt und dort verscheidet.

Am kommenden Sonntag, dem 29. Januar, es war der heißeste Tag des Sommers, wurde ein starker kräftiger Ziegenbock, mit Hunderten, mit Aberhunderten von Zetteln behangen. Wie ein Flatter-Helm baumelten die Zettel von seinen Hörnern, wie ein Kleid hingen die Zettel an seinem Fell, an seinem Schwänzchen hingen die beschriebenen Schnipsel bis zum Boden, sein Bart war nicht mehr zusehen, selbst zwischen seine Hufe steckte man ihm beschriebenes Papier. Mit lautem Gegröle und Beschimpfungen wurde der Ziegenbock in Richtung Wüste gejagt, ein Steinhagel begleitete seine erschrockene Flucht.

Zehn Tage später war der Bock wieder da. Er kraulte mit seinen Hörnern seine Lieblingsgeiß. Er wurde eingefangen und wieder verjagt. Ein paar Tage später war er wieder bei seiner Geiß. Jetzt wurde er geschlagen und verjagt, er kam wieder zurück und wurde noch mehr geschlagen. Nach dem sechsten Mal wollte man ihn erschlagen, aber dagegen sprachen sich die Geistlichen aus. Zwölf Mal wurde er verjagt, dann wurde er nie mehr gesehen, er war verschwunden für immer, wie plötzlich auch die Geiß, zu der er, der Bock immer gekommen war, auch verschwunden war.

Die Rückkehr
100 Jahre später: Seit über zehn Jahren sind Berichte von der Rückkehr der Ziegen aus den australischen Medien nicht mehr weg zu denken, obwohl das Phänomen schon lange bekannt ist.

Die Klagen, dass in dieser Gegend angeblich überproportional viele Wildziegen ihr Unwesen treiben, sind seit den 30er Jahren des letzen Jahrhunderts, also seit über 70 Jahren aktenkundig. Alle Versuche einer Dezimierung der Ziegen scheiterten. Ein Gerücht sagt, dass aus der nicht allzu weit entfernten Wüste immer mehr Ziegen kommen, dass dort die Heimat der Sturgoats, der Wüstenziegen, sei. Immer wieder machten sich Jäger in die Wüste Stur auf, um dort das Nest zu finden, die Quelle, von woher die zahllosen Ziegen kämen, um sie am Entstehungsort auszurotten. Aber alle kehrten ohne Erfolg zurück.

So litt und leidet die Bevölkerung weiter unter den Ziegen bis heute. Nicht nur der Schaden, den die Ziegen in der Landwirtschaft und den Gärten anrichten ist das Problem, das gibt es woanders auch, das Meckern der Ziegen, dieses als anklagend, als schmerzlich, vorwurfsvoll empfundene Meckern, quält die Menschen am meisten und raubt ihnen die Ruhe und den Schlaf. Manch einer verzweifelt daran so stark, dass er aus der Gegend wegzieht und woanders sein Glück versucht, andere werden aggressiv und schießen auf jedes Meckern, mehrere versuchten es mit Liebe und gaben den wilden Ziegen eine neue Heimat, verwöhnten sie und hofften so, dass sie mit diesem tadelnden, beleidigten, herausforderten Meckern aufhörten, versuchten es so lange, bis sie verzweifelt aufgaben.

Als vor zehn Jahren in einer Einwandererdokumentation von diesen Ziegen, von der Geschichte des Ziegenbocks und der heutigen Ziegenplage berichtet wurde, hörten die Erklärungsversuche und die gut gemeinten Vorschläge nicht auf. Wissenschaftliche Studien über die Ziegenpopulation wurden angefertigt ohne erklärende Ergebnisse. Eine Wildziegenzählung fand keine übermäßige Ziegendichte, sie entspräche dem australischen Durchschnitt. Lautexperten fanden heraus, dass diese speziellen Ziegen am Ende ihres Meckerns, im Abgang, ein ansteigendes h meckern, das vom Menschen als anklagend empfunden wird. Unsinn, alles Unsinn sagen Tonexperten von der Universität Brisbane. Pietistische Prediger erwähnen die Ziegen immer wieder als Strafe für vergangene Sünden, Psychologen interpretieren den Hass auf die Ziegen als kollektive projektive Schuldzuweisung einer eigenen nicht bearbeiteten Schuld. Eine Fernseh-Koch-Show mit speziellen Ziegenrezepten sollte Ziegenfleisch populär machen, auf dass der Appetit auf Ziegen sie dezimieren würde, aber letztlich profitierten nur Ziegenzüchter davon, sie propagierten Wildziegenfleisch als nicht einwandfrei, die würden alles unkontrolliert fressen, gezüchtete Ziegen wären reiner und hygienischer.

Alle Versuche, die Ziegen zu stoppen scheiterten. So meckern diese Ziegen weiterhin, nerven die Bevölkerung, ernähren Experten jeglicher Art. Das einzig sehr erfreuliche ist, dass durch die Medienpräsens die Gegend einen touristischen Aufschwung genommen hat, so dass 2010 ein „Hotel zum meckernden Ziegenbock“ seine Tore geöffnet hat und Kinder in einem Streichelzoo sich mit den Ziegen vergnügen können. Es wurden aber vorbeugend Fremdziegen von der Westküste eingeführt, aus Perth, um die Kinder nicht mit diesem abartigen Meckern einheimischer Ziegen zu ängstigen.

 

Literatur:
von Kontz S.: Das Leben mit Ziegen, Melbourne, 2009
Mucker R. : Der Kehllaut einiger Ziegen in der australischen Steppe, Stuttgart, 1989
Geher U. : Große Geschichte der Auswanderer nach Übersee, Band 3, Bremen 1986
Brummer Z.: Legenden aus der Wüste, Hamburg, 1974