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LochlöffelÜber den Versuch,
durch Einflößen von Buchstaben Kindern das Lesen zu erleichtern

 

In Nenzing im österreichischen Vorarlberg ist im Kulturzentrum „Artenne“ in einem Archiv ein Löffel zu sehen, dessen Löffelschale mit 20 Löchern perforiert ist. Ein auf den ersten Blick verwirrender Löffel, denn wie sollte, mit einem solchen durchlöcherten Löffel, Suppe jemals erfolgreich gelöffelt werden?

Dieser Löffel ist kein echter Suppenlöffel zum Suppe löffeln, es ist ein pädagogischer Erziehungslöffel. Ein typischer Buchstabennudelsuppenlöffel aus der zweiten Jahrhunderthälfte des 19. Jahrhunderts. Als solcher wurde er auch in dem Archiv bezeichnet.

Als die Gebrüder Grimm zum Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Buchstabensuppe erfanden um damit Lautverschiebungsexperimente durchzuführen, wurden diese Buchstabennudeln schnell von den Erziehern von pädagogischen Einrichtungen übernommen, in der Überzeugung, damit den Kindern schneller und effizienter das Lesen und Schreiben beizubringen.

Der Fall des Kaspar Hauser wurde noch überall diskutiert. Was passiert, wenn ein Mensch ohne Einflüsse von außen aufwächst? In Leipzig wurden mit Findelkindern Versuche angestellt, sie ohne Sprache aufwachsen zu lassen, nur mit Musik und man erhoffte, dass daraus Menschen entstehen, die die Musik als oder wie Sprache benützen würden. Daniel Gottlob Moritz Schreber entwickelte in dieser Zeit orthopädische Erziehungsgerätschaften, an denen man Kinder fest band, damit sie über die Körperfixierung einen gesunden Geist bekämen.

Es war eine Zeit der Pädagogik, bei der man davon ausging, dass das Kind geformt werden könne wie eine Teigmasse, dass Erziehung aus Abrichtung und Dressur bestehe. Still sitzen, auswendig lernen, Gehorsam waren die Ideale einer echten Erziehung.

Der Vordenker und Aufklärer Johann Georg Sulzer über den „Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder“: „Diese ersten Jahre haben unter anderem auch den Vorteil, dass man da Gewalt und Zwang brauchen kann. Die Kinder vergessen mit den Jahren alles, was ihnen in der ersten Kindheit begegnet ist. Kann man da den Kindern den Willen nehmen, so erinnern sie sich hiernach niemals mehr, dass sie einen Willen gehabt haben.“

1977 bezeichnete die Berliner Soziologin Katharina Rutschky diese Erziehungsmethoden als „Schwarze Pädagogik“. 1980 wurde der Begriff „Schwarze Pädagogik“ von Alice Miller in ihrem Bestseller „Am Anfang war die Erziehung“ übernommen und ist seit dem der Begriff für eine den Kinderwillen brechende Erziehung.

Ausgehend von der Ernährungslehre des in der Mitte des 19 Jhr. sich in aller Munde befindlichen Modearztes, Christoph Wilhelm Hufeland, Begründer der Makrobiotik, dass das was der Mensch isst, er auch ist, entwickelte man für Kinder spezielle Ernährungsdiäten. Kleinkinder im Krabbelalter sollten kein Fleisch bekommen, damit sie nicht auf der Stufe der vierbeinigen Tiere bleiben, später aber, wenn sie aufrecht gehen konnten, sollte man ihnen weniger Gemüse zum Essen geben, damit sie nicht in eine Bewegungsarmut verfallen, wie sie den Pflanzen, dem Gemüse, zu eigen ist.

Kinder sollten immer zielorientiert ernährt werden. Für Kinder die später einen sitzenden Beruf ausüben sollten, sei mehr vegetarische Kost angebracht, wiederum bei Kindern, die später einen Beruf mit Bewegung, wie Briefbote, Polizist, Kaminkehrer etc. ausübten, sollten bevorzugt mit Fleisch ernährt werden, möglichst Pferde- oder Rindfleisch. Vor Schweinefleisch wurde grundsätzlich gewarnt. Schweinefleisch würde zu moralischen Verwerfungen und zu Fettsucht führen. Für zukünftige Seefahrer wurde der frühzeitige Genuss von viel Fisch dringendst empfohlen.

In diesem Geiste verabreichte man Kindern, die später in lesenden, schreibenden oder kaufmännischen Berufen tätig sein sollten, Buchstabennudelsuppe. Die Überzeugung war, dass mit der Einverleibung von Buchstaben Kinder einen besseren, schnelleren und nachhaltigeren Zugang zum Lesen und Schreiben bekommen. Bald stellte sich heraus, dass Kinder, die noch keine Buchstaben kannten, im Alter vor den Schuljahren, die Suppe einfach nur aßen, ohne auf die Buchstaben zu achten. Diese Form von unbeachteter Einverleibung der Buchstaben wirkte sicher auch, aber man ging davon aus, dass eine bewusste Wahrnehmung der Buchstaben vor der Einverleibung, d.h. vor dem in den Mund stecken, eine tiefere, einprägendere, dauerhaftere Wirkung habe.

Aus dieser Einsicht entwickelten die Pädagogen einen perforierten Löffel, dem die Suppe entrinnt und die Buchstaben erkennbar auf dem Löffel liegen läßt, den Buchstabenlöffel. Die Kinder nahmen nun die Buchstaben deutlich und klar, ohne störende Suppe, auf dem Löffel liegend, wahr. Hatten die Kinder mit ihren Buchstabenlöffeln alle Buchstaben gegessen, bekamen sie einen einfachen Suppenlöffel ausgehändigt und konnten nun den flüssigen Anteil auslöffeln. So lernten die Kinder, zusätzlich zu den Buchstaben, früh das Wässrige von Festem zu unterscheiden, das Wesentliche vom Unwesentlichen, die Schrift von dem Papier.

In einigen sehr ambitionierten Erziehungsanstalten bekamen die Kinder nur noch Buchstabennudeln zu essen, was bald zur Fehlernährung führte und die Kinder als untauglich ausgemustert wurden. Man erklärte sich die Fehlentwicklung der Kinder damit, dass in ihren Magensäften die Säfte für das Lesen und Schreiben nur gering vorhanden wären, und sie daher die Buchstabensuppe nicht vertrugen.

Anfang des 20. Jahrhundert wurde die Buchstabensuppe als Erziehungsmethode immer weniger verwendet.

Die Grundhaltung, dass der Bauch, die Verdauung einen großen Einfluss auf das Wesen eines Menschen hat, ist in der Sprache bis heute zu finden, spricht man doch von einen „Bauchgefühl“ oder „ich höre auf meinen Bauch“, „mein Bauch sagt mir“, „aus dem hohlen Bauch heraus“. etc.

Heute ist die Buchstabensuppe eine beliebte Suppe bei Kindern, die lesen und schreiben können, es ist ein Spiel mit Buchstaben in der Suppe.

 

Literatur:
Alice Miller, „Am Anfang war Erziehung“, Frankfurt a.M., 1980
Alice Miller, „Du sollst nicht merken“, Frankfurt a.M., 1981
Katharina Rutschky, „Schwarze Pädagogik“, München 1977
Anton Michel, „Das manipulative Essen“, Berlin, 2011
Mechthild Liebreiz, „Über das ‚Falsche Selbst‘ bei Donald Winnicotts“, Sammelband, Essen, 2003
Gerburg Wolf, „Über die Dressur des Kindes“ Berlin 2013
Johann Georg Sulzer, „Versuch einiger vernünftiger Gedanken von der Auferziehung und Unterweisung der Kinder“, Berlin 1745