logo museum der unerhörten dinge

 

 

Die fünf Deserteure

 

 

Sonntag 18. 06. 1815 gegen 19.30

Die Schlacht

Bei der Schlacht von Waterloo bei der 188.000 Menschen auf Befehl aufeinander losgingen, aufeinander einhieben, sich niederstachen, zu Boden ritten, erschossen, entleibten, sich die Beine und Hände abhackten, das Innere nach außen holten, damit man, nachdem alles vorbei war, 47.000 Tote und Verwundete zählen konnte.
Angeführt von Offizieren, eingelullt von der dem Herzschlag synchron geschalteten Marschmusik, aufgestachelt durch gemeinsames Gebrüll von Angst minimierenden Kampfesparolen, den Verstand abschaltend, von einem originärem Ich zu einem virtuellen Wir werdend, um dem Ganzen einen übergeordneten Sinn zu geben, marschierten die Soldaten aufeinander los; mit dem einen Ziel, mit der einen Aufgabe, möglichst viele der anderen umzubringen, wie auch immer zu massakrieren, in der Hoffnung, selbst durch einen Zufall, durch Taktik oder einfach nur durch Glück, zu überleben.
Bei dieser Schlacht gab es sicher auch Menschen, bei denen die Angstabschaltung nicht wirkte, oder nur kurz, die mitten drin, während der Schlacht, nicht mehr mitmachen konnten, nach Hause wollten, denn wer hält so ein Menschengemetzel schon aus.
Die, die einfach aufhörten, die, die sich verdrückten, die, die nicht mehr wollten, werden Deserteure genannt, Drückeberger, Feiglinge, Vaterlandsverräter. Von diesen Empfindsamen, Ängstlichen, Ungehorsamen soll hier die Rede sein, um ihnen ein kleines, winziges Denkmal zu setzen: Dem unbekannten Deserteur.

Donnerstag 18. 6. 2015 gegen 19.30

Zwei Hundert Jahre später.

Der Künstler und Musiker Hannes Wienert stellt, anlässlich des 200. Jahrestages der Schlacht von Waterloo, 2.700 Soldatenfiguren im Museum der Unerhörten Dinge in Berlin auf, unbemalt, aus grauem Plastik; der Komponist Heinz Weber komponiert für diese Soldaten ein eigenes Stück, in dem die Schrecken und das Absurde von Kriegen zum Ausdruck kommt.
Diese erhebliche Menge kleiner, ca. 4 cm großer Figuren auf zwei Tischen waren durch das Schaufenster des Museums zu sehen, keine Schlachtenaufstellung, eine phantasieformation von Soldaten.
Kinder drückten ihre Nasen an das Fenster und freuten sich an so vielen Wimmelfiguren, Männer verzögerten ihren Schritt, blieben fasziniert vor dem Fenster stehen, pazifistische Gemüter rümpften skeptisch ihre Nasen und verdehrten skeptisch ihre Augen viele schüttelten fragend ihren Kopf, Kunstfreunde erkannten den Hauch von Fluxus. Andere sahen das Besondere in diesem nicht alltäglichen Banalen und entzückten sich. Jede/r sah das, was er sehen mochte, und das war auch gut so.
Zur Ausstellungseröffnung, zeitgleich wie bei der Schlacht vor 200 Jahren, gab es Bratkartoffeln mit Zwiebeln und korsischen Wein. Napoleon nahm dieses während der Schlacht zu sich. Dem General Blücher wurde während der Schlacht sein Pferd unten dem Arsch weggeschossen, er verlangte zu seiner Gesundung Rhabarbersaft mit Gin und Knoblauch, er trank dies, gesundete blitzartig und gewann die Schlacht. Auch dieses gewöhnungsbedürftige Getränk wurde während der Eröffnung ausgeschenkt.
Die Erzählung, die immer wieder bei psychiatrischen Kongressen erwähnt wird, von dem Befehl Napoleons, dass jeder Soldat eine Reserveunterhose bekam, dass Napoleon schon den Zusammenhang von Darm und Angst erkannte, wurde bei der Ausstellung nicht berücksichtigt. Die Unterhosen, die sauberen wie die vollen, fehlten an diesem Tag.
Die Soldaten standen erstarrt, wie der Koch bei Dornröschen, der gerade zum Schlag ausholte und der Küchenjunge, der sich wegduckte, als die Zeit stehen blieb. Der Soldat mit der Trompete in der Hand, Standarte tragend, vom Pferd fallend, galoppierend, marschierend, robbend, oder wie auch immer, sie alle standen starr, unbeweglich, aufgestellt. Die Zeit stand still.
Keine Trompete erklang, kein Trommelwirbel, kein Schrei, kein Schlachtgetümmel war zu hören, nur die Komposition von Heinz Weber.
Am Abend des dritten Tages wurden alle Soldaten wieder abgeräumt, eingepackt in die dazu gehörigen Spielzeugkartons, den Kasernen, alle Kasernen wurden in eine Großkaserne, in einen Rollkoffer, verstaut zum Abtransport.
Am vierten Tage war das Museum leer.

Mittwoch den 24. 06. 2015

Nach der Schlacht

Wie nach einer jeder Schlacht wurde anschließend auch das Museum aufgeräumt, geputzt und neu gestrichen. Eine Arbeit, die meist von Frauen übernommen wird, da die Männer gefallen sind, aufgerieben wurden, verwundet, amputiert, traumatisiert oder verwirrt durch die Gegend laufen. Bei diesen Putz-, Auf-, Um- und Neusortierungsarbeiten im Museum fanden sich hinter einem Stein, einem Museumseigenen Henkelstein, fünf Soldaten, fünf sich versteckende Soldaten. Soldaten, die sich vom Acker gemacht, vom Tisch gesprungen und sich hinter dem Stein verdünnisiert, verkrochen haben.
Sie wollten, ganz einfach, den ganzen Wahnsinn der Schlacht, sei es auch nur einer erstarrten, einer Spielzeugschlacht, nicht mehr mitmachen, nicht mehr aufgestellt, nicht mehr im Kriege gezeigt werden. Sie zogen es vor, zu verschwinden, zu desertierten vor dem Wahnsinn des Krieges.
Ihnen sei der besondere Dank, denn sie erinnern uns an das Menschsein mitten im Krieg, an das Lob des Ungehorsams.
Es sind diese fünf Aufrechten, die nun einen besonderen Platz im Museum der Unerhörten Dinge bekommen haben.

 

Literatur:
L. Wahlstöm, Der Angst-Darm, Stockholm, 2002
L. Luckert, Essen & Trinken im Kriege, München 1978
H. Muchert, Waterloo und die Folgen, Stuttgart 1957