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antoniusÜber die Zungenfertigkeit
wie auch über die Predigten einer einzigartigen Zunge,
die bis heute zu besichtigen ist.

Gewidmet Bettina Gruber, deren Rabe den Heiligen mit einem zwinkernden Blick verschmitzt anschaut.

Als der Heilige Antonius vom vielen Predigen müde wurde, legte er sich in einem stillen Olivenhain nieder, um sich auszuruhen.

Antonius predigte den Menschen, brachte den Fischen, ganzen Sardinenschwärmen, das Wort seines Herrn, vor Kurzem erschien ihm das Jesuskind. Seit Jahren wanderte er ununterbrochen durch viele Länder, predigte, redete, deklarierte, überzeugte alle die, die ihm zuhörten. Er wurde schon Monate im Voraus gebucht, vollbrachte zu Lebzeiten mehrere Wunder, was ihn immer berühmter und populärer machte. Er war ein viel gefragter Mann, alle wollten ihn engagieren, ihn hören. Seine Stimme, die die Worte seines Herrn verkündigte, war so überzeugend und wohlklingend, dass Menschenmassen zu ihm strömten.
An diesem Tag hatte er von früh bis spät geredet und ward nun müde. Sein Redeorgan, der Kehlkopf schmerzte, seine Zunge war geschwollen. Alles im Mund war von den vielen Worten, die er artikulierte und modellierte, wund gescheuert.

Antonius wollte niemanden mehr sehen, keine Huldigungen mehr entgegennehmen, keine neuen Termine mit seinem Team besprechen, keine Verhandlungen um Honorare und Tantiemen führen, er wollte die nächsten Stunden mit sich allein sein, sich besinnen, zu sich selbst kommen. Diese, seine ersehnte Ruhe, fand er in dem besagten Olivenhain.

Unter einem alten schattenspendenden Baum legte er sich zur Ruhe. Er meditiere über den Olivenhain an sich, wie auch über den, in dem sein Herr schwere Stunden vor seinem Tod verbracht hatte. Er wurde immer müder und kurz bevor er einschlief, nahm er seine wundgeredete Zunge aus dem Mund, legte sie zum Lüften und zur Genesung neben seinen Kopf. Diese seine Zunge würde er erst wenn die Sonne dreiviertel vor dem Horizont steht, wieder brauchen. Bis dahin sollte sie sich erholen. Er schlief sofort ein.

Ein Rabe, neugierig wie Raben von Natur aus sind, beobachtete die Szene. „Das muss ich inspizieren“ dachte sich der Rabe. Die braune Kutte kam ihm bekannt vor. Einer mit dem gleichen Habit hatte einer Rabenschar vor Jahren in Assisi gepredigt. Über diesen kauzigen Kerl wurde seit Jahrzehnten bei den Rabenversammlungen gesprochen. „Diesen da, den kenn ich“ sprach der Rabe vor sich hin, „das ist doch der, der vorhin den Fischen gepredigt hat? Komische Vögel sind das schon, die mit den braunen Kutten.“ Er hüpfte, zögernd auf Rabenart, immer näher zu dem Schafenden. „Was hat der da denn neben seinem Kopf liegen? Das sieht ja lecker aus“.
Liebe Leserin, lieber Leser, du ahnst es, du weißt es schon, er schnappte sich die Zunge, hüpfte mit ihr im Schnabel 10 Meter weit weg und untersuchte sie, „Oh gar nicht schlecht, ein Leckerbissen“ packte sie, die Zunge, und flog mit ihr davon.

Als Antonius aufwachte, griff er neben seinen Kopf, um seine Zunge wieder in seinen Mund zu stecken. Da war aber keine. Er erschrak. Sie war weg. ...Wo ... Seine Zunge … Panik... Er wurde schlagartig hellwach, keine Zunge, wo ist sie? Er suchte die unmittelbare Umgebung ab, fand sie nicht.... Keine Zunge ... Er kniete sich nieder, um zu beten. (Den Heiligen Antonius, den Finder der verlorenen Sachen, konnte er noch nicht anrufen, er hätte sich selbst sofort angerufen, aber er wurde erst nach seinem Tod, einige Jahre später, heiliggesprochen.) Antonius betete laut, fast schreiend, bat Gott um seine Zunge und stellte fest, dass er dabei sprechen konnte! Was war das? Er fingerte sofort mit den Fingern in seinem Mund herum. Er fand dort eine Zunge, dort war eine Zunge!

Was war geschehen? Der Herr hatte Erbarmen mit sich selbst. Er brauchte unbedingt die Stimme des sprachbegabten Antonius, damit dieser seine Worte, die Worte des Herrn, weiter so wirkungsmächtig predigen würde. Er, der Herr, der Allmächtige, ließ ihm einfach eine neue Zunge wachsen. Eines dieser Wunder Gottes, die nie bekannt werden. Natürlich hütetet sich Antonius, davon jemanden zu erzählen, was würden die Leute reden, wenn sie erfuhren, dass er vom Herrn eine neue Zunge bekommen hatte, nur weil er unfähig gewesen war, auf seine alte aufzupassen.

Wir verlassen nun den späteren Heiligen Antonius, dieser predigte weiter und seine Zunge, die zweite, ist heute in der Schatzkapelle der Basilika zu Padua zu festen Tageszeiten zu besichtigen.

Wir kehren nun zurück zur Zunge Nr. 1 und dem Raben.
Der Rabe verbrachte seine Beute, die Zunge, in seinen Horst, in dem sein Nachwuchs mit offenem Schnabel wartete. Gemeinsam verspeisten sie die feine zarte Zunge.

So weit so gut.

Da es sich aber um eine ganz besonders begnadete, gesegnete, um eine gebenedeite Zunge handelte, die die Worte des Herrn ständig formulierte, hatte sich die außergewöhnliche Redeeigenschaft inzwischen in die Gene der Zunge eingeschrieben. Da Gene sich durch die Verdauung nicht verändern, sondern spezifisch für den Wirtskörper aufbereitet werden, wanderten die Zungeneigenschaften in die Genstruktur der Raben. Die Raben, die aus dieser Rabenpopulation hervorgingen, kann man ohne Bedenken als besonders klug und sprachbegabt bezeichnen.

In der Rabenforschung werden immer wieder Raben mit besonderen Eigenschafen und Raffinesse beschrieben, weil einige mehr als andere sprachbegabt seien, deren Wortartikulation mehr als ein Nachäffen von Gehörtem sei. Aktuell geht die Forschung davon aus, dass es sich um Nachfahren der „die Antonius Zunge aßen“ (comedit lingua Antonii ) wie sie genannt werden, handelt.

Am eindrücklichsten wurde einem Raben dieser Population 1966 in dem mit einer goldenen Palme ausgezeichneten Film „Große Vögel, kleine Vögel“ (Uccellacci e uccellini) des Regisseurs Pier Paolo Pasolini ein Denkmal gesetzt.

Ein Rabe begleitet einen Vater mit seinem Sohn durch ihre begrenzte Welt und erklärt ihnen die Zusammenhänge der Ungerechtigkeiten des Lebens. Belehrt sie über den Klassenkampf, über das Widerstandsrecht im Kapitalismus. Der Rabe wird, in dem Film, als das beredte intellektuelle Gewissen der Welt dargestellt. Vater und Sohn hören sich gerne die unterhaltsamen Reden des Raben an. Aber eine dem Raben auf der Zunge liegende Klugscheißerei ging ihnen mit der Zeit reichlich auf die Nerven. Was der Rabe immer mehr von sich gab, wurde für sie zu einem langweiligen, abgehobenen Gelabere. Zum Schluss nutzte alles neunmalkluge Reden dem Raben nichts.

Der Vater animierte den Sohn, sie verständigten sich mit den Augen so, dass der dozierende Rabe nichts mitbekam. Vater und Sohn einigten sich, schlugen den Raben tot, brieten ihn und aßen ihn auf. Zum Schluss sind nur noch die Knochen, das Federkleid, sowie die Zunge im Schnabel übrig.

Mit diesem Schussbild endet der Film wie auch die Erzählung über eine vorlaute Zunge.


Literatur:
Pier Paolo Pasolini, „Große Vögel, kleine Vögel“, Film, Italien, 1966
Cord Riechelmann, Judith Schalansky (Hg.) „Krähen / Ein Portrait“, Berlin, 2013
Reinhard Rinnerthaler „Antonius von Padua – Wundersames über den Heiligen“ Salzburg 2003.
Anton Rotzetter „Antonius von Padua. Leben und Legenden. Solothurn 1995
Thomas Razlinger, „Von wandernden Zungen“ Köln, 2002